Tiefgründig

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Die Leseprobe hatte mich noch nicht ganz überzeugt, der Roman insgesamt dafür umso mehr. Er geht zu Herzen, ohne dabei ins Oberflächliche oder gar Kitschige abzugleiten, und erweist sich außerdem als überraschend tiefgründig.

Der Musiker Quinn führt ein unstetes Leben. Zu seinem mittlerweile 11jährigem Sohn, der sowohl autistisch als auch hochbegabt zu sein scheint, hat er nie richtig Zugang bekommen. Von dessen Mutter Belle, die er eigentlich noch immer liebt, ist er inzwischen zweifach geschieden. Da stirbt der gemeinsame Sohn völlig überraschend. Der Grund hierfür erschließt sich erst nach und nach: eine Kombination aus einer sehr seltenen Herzkrankheit und den Medikamenten gegen seine Angstzustände. Während Belle untröstlich ist, findet Quinn zu seiner Trauer genauso wenig Zugang wie vorher zu seinem Sohn. Dies drückt sich auch dadurch aus, dass der Leser den Namen des Sohnes nicht erfährt, es ist immer nur von "dem Jungen" die Rede. Das ist zu Beginn so redundant, dass es mich genervt hat. Dennoch ist es ein interessanter Kunstgriff, von dem ich mir allerdings gewünscht hätte, dass die Autorin ihn zumindest in der rückschauend vom Tod des Jungen handelnden Schluss-Szene des Romans auflöst, indem sie den Namen endlich preisgibt.
Auf Bitte von Belle übernimmt Quinn die Pfadpfinderpflicht seines Sohnes, sich um die 104jährige Ona Vitkus zu kümmern. Was er zu Beginn als eine Last versteht und nur sieben Wochen dauern sollte, wird schließlich zu einer generationenübergreifenden Freunschaft, wie sie auch Ona und den Jungen schon nach kurzer Zeit verband und die Quinn wenigstens nachträglich seinem Sohn etwas nahe bringt. Von Onas Leben erfährt der Leser im Rückblick vor allem durch aufgenomme Interviews zwischen dem Jungen und Ona. Das hat mir gut gefallen, da ich schon zu viele Romane gelesen habe, in denen sich Autorinnen auf zwei Zeitebenen verzetteln und dann mit zwei oberflächlichen Geschichten enden. Hier dagegen sind alle Protagonisten sehr fein gezeichnet, unverwechselbar und ohne jede Schwarz-Weiß-Malerei. Auch bliebt dem Leser ein aufgesetzen Ende, in dem beispielsweise Quinn und Belle wieder zueinander finden würden, erspart. Das fand ich genauso angenehm wie die bildhafte Sprache und die präzise Beobachtungsgabe der Autorin für menschliche Empfindungen. Ich habe den Roman sehr genossen, obwohl er nicht zu den von mir sonst bevorzugten Genres zählt.
Das märchenhaft-scherenschnittartige Cover passt sehr gut zur Geschichte. Mit dem deutschen Titel habe ich bis zum Schluss gehadert, erst dann erschloß sich sein Sinn. Dennoch finde ich den Originaltitel "The-One-in-a-Million-Boy" viel passender. Er spielt nämlich sowohl auf den genetischen Herzdeffekt als auch auf die psychische Besonderheit des Jungen an.