Das Vergangene ist nicht tot

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buecherfan.wit Avatar

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“Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.” Dieser oft zitierte Satz aus “Requiem für eine Nonne” (1951) von William Faulkner könnte als Motto über Dawn Tripps Roman mit dem etwas unglücklich gewählten Titel “Das Liebesspiel” stehen, und tatsächlich weist die Autorin selbst auf dieses Zitat hin (S. 183). In ihrem Roman beeinflussen vergangene Ereignisse das Leben von zwei Familien in einer amerikanischen Kleinstadt noch in der dritten Generation.

Die Handlung setzt im Oktober 1957 ein. Der verheiratete Luce Weld hat eine Affaire mit der ebenfalls verheirateten Ada Varick. Ihr Mann Silas weiß Bescheid und droht, beide umzubringen. Luce Weld hat seine Familie schon vor Jahren verlassen, sieht seine geliebte Tochter Jane jedoch regelmäßig. Sie vergöttert ihn. Im Herbst 1957 ist Jane 12 Jahre alt, als ihr Vater spurlos verschwindet. Fünf Jahre später taucht beim Bau der neuen Straße in einer Kiesgrube ein Schädel mit einem Einschussloch auf. Es ist so gut wie sicher, dass es sich um die sterblichen Überreste von Luce Weld handelt, und die meisten im Ort halten den eifersüchtigen Ehemann Silas Varick für den Mörder. Welds Tod wird nie aufgeklärt.

Fast 50 Jahre später ist seine Tochter Jane noch immer auf der Suche nach Antworten. Ihr Sohn Alex hat seine Schwester Marne aus Kalifornien zurückgerufen, damit sie sich um die manchmal verwirrt wirkende Mutter kümmern kann. Marne kehrt ungern an einen Ort zurück, in dem sie nie leben wollte. Das liegt zum einen an dem gespannten Verhältnis zu “dieser Frau”, die durch die Affäre mit Luce Weld die Familie zerstört hat, und zu den übrigen Varicks, allen voran Adas Sohn Huck, zum anderen an der Distanz und Kälte zwischen Jane und Marne, die bis in Marnes Kindheit zurückreicht. Erstaunlicherweise spielt Jane jeden Freitag mit der 20 Jahre älteren Ada eine Partie Scrabble. Sie ist Adas Einladung zum Spiel gefolgt, weil sie hofft, von ihr endlich die Wahrheit über die damaligen Ereignisse zu erfahren. (“Es war Ada, die nach mir gesucht hatte - um ein Wort auszulegen, eine letzte Geschichte auf den Tisch zu legen, diejenige, die man nicht erzählen kann.” S. 258)

Die Scrabble-Partien nehmen im Roman eine zentrale Stellung ein. Die beiden Spielerinnen haben ganz verschiedene Strategien, streiten sich auch gelegentlich darum. Beide wollen jedoch Punkte machen und gewinnen. Immer wieder wirken die ausgelegten Wörter und ihre Dialoge ambivalent, aber noch wichtiger ist das, was nicht gesagt wird - in der einen oder anderen Form. Ada weiß, worum es Jane geht: Was hat ihr Luce Weld bedeutet? War es die Sache wert, zwei Familien zu zerstören? Und die wichtigste Frage von allen: Wer hat Luce Weld getötet? Jane bekommt keine direkten Antworten auf ihre Fragen, obwohl Ada die Wahrheit kennt. Aber Ada vermittelt ihr auf indirekte Weise Einsicht in ihr Denken und Fühlen und den Stellenwert der Liebe in ihrer beider Leben (“… du sagtest mir, unser Glück sei es, das zu lieben, was wir lieben, wohl wissend, dass wir es verlieren werden…” S. 303). Das ist eine Erfahrung, die sie teilen: sie haben mehrfach das verloren, was sie liebten.

Die Situation wird auch dadurch kompliziert, dass Janes Tochter Marne und Adas Sohn Ray sich näher kommen, obwohl sich Marne, die schon immer in Ray verliebt war, gegen diese Verbindung sträubt. Wird sie begreifen, wo sie hingehört, und kann sie ihren Frieden mit der Vergangenheit machen?

Das Spielbrett ist nicht der einzige Gegenstand, an dem Gefühle und wesentliche Eigenschaften der Protagonisten festgemacht werden. Auch bei Marnes Annäherung an die Mutter spielen konkrete Gegenstände eine Rolle. Immer wieder betrachtet Marne ein Foto der 17jährigen Jane, aufgenommen von einem bei den Straßenbauarbeiten tätigen Ingenieur, und liest Adas im Wagen vergessenes Leihbuch mit den Randnotizen, das früher der kostbarste Besitz ihrer Mutter war. Luce hatte es Jane bei ihrem letzten Treffen geschenkt. Mit Hilfe des Buches und ihrer Notizen hält Jane die Erinnerung an den geliebten Vater wach, und Marne versucht mit dem Foto und dem Buch herauszufinden, wer ihre Mutter war. Und schließlich ist da am Ende wiederum das Scrabble-Spiel als verbindendes Element zwischen Marne und ihrer Mutter.

Dawn Tripp erzählt ihre Geschichte aus wechselnden Erzählperspektiven - der von Luce, Jane im Jahr 1962 und im Juli 2004, Marne, Adas Sohn Huck im Sommer 1962 - und mit vielen Rückblenden zu vergangenen Ereignissen. Auf diese Weise schafft sie es, dass ihre Romanfiguren am Ende einen unterschiedlichen Informationsstand haben, der Leser jedoch die ganze Wahrheit kennt. Vor allem vermittelt sie die Einsicht, dass das Bewahren von Geheimnissen und all die unausgesprochenen Dinge verheerende Folgen haben können. Der Autorin ist ein sehr berührender Roman mit einer wundervollen, poetischen Sprache gelungen, den ich sehr gern gelesen habe.