Das Mädchen, das rückwärts ging

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Der Roman handelt von der mittlerweile alleinerziehenden Beth und ihrer 8-jährigen Tochter Carmel. Seit Beginn des Buches wird das Geschehen sowohl aus der Sichtweise der Mutter als auch aus der der Tochter geschildert, was dem Leser eine bessere Identifikationsmöglichkeit bietet und einem die beiden Hauptfiguren mit ihrer Denkweise sehr gut nahebringt.
Die Atmosphäre ist von Anfang an bedrückt und relativ düster, es ist ein Grundgefühl, das durch bestimmte Formulierungen, das Fokussieren einzelner Details und Eigenarten und durch die Gefühle der Figuren erzeugt wird, sodass man ahnt, dass bald etwas passieren würde. Allem voran ist da Carmel, die anders als andere zu sein scheint. Sie verhält sich auffällig, ist eine Mischung aus introvertiert und dennoch eigensinnig und charakterstark, was sie zu einer interessanten Figur macht. Durch das Schildern des Geschehens mit ihren Worten wird klar, dass sie zwar eine eigenwillige Sicht auf die Dinge hat, sie aber für 8 Jahre auch unglaublich clever und sehr empathisch ist. Man hört ihr gerne zu, versteht ihre Verhaltensweise wie das gelegentliche Verstecken nicht immer, aber sie ist sympathisch und nimmt sich raus, was sie braucht, um glücklich zu sein.

Ihre Mutter Beth erscheint relativ unsicher, hat immerzu Sorge, ihre Tochter aus den Augen zu verlieren und ist in Gedanken auch zu häufig bei ihrem Ex-Mann und dessen neuer Lebensgefährtin, die sie in ihrer vermeintlichen Perfektion nicht ausstehen kann. Beths Abschnitte sind geprägt von vielen Sorgen und (wie sich im Nachhinein herausstellt) dem besonderen Analysieren der letzten Tage mit ihrer Tochter. Die im Präteritum geschriebenen Abschnitte der Mutter könnten Tagebucheinträge sein, in denen sie alle wichtigen Situationen rekonstruiert, um sich selbst Anhaltspunkte für die drohende Entführung ihrer Tochter zu liefern. Es unterstützt ihre fahrige, suchende und unzufriedene Persönlichkeit, die sich noch verstärkt, als sie Carmel verliert.

Das tragische Ereignis findet auf einem Festival für Kinder statt. Es gibt verschiedene Zelte mit unterschiedlichen Darbietungen, im Freien gibt es Stelzenläufer und Drachen und in einem Zelt, in dem eine Lesung für Kinder stattfindet, lächelt Carmel einem älteren Herren zu. Bei einer Frage-Antwort-Runde mit der Autorin kommt es auch dazu, dass Carmel von dem zerrütteten Verhältnis zwischen ihrer Mutter und deren Eltern erzählt, weshalb kein Kontakt mehr besteht. Dass das ausschlaggebend sein würde, konnte da noch niemand ahnen.

Entgegen der Bitte der Mutter, sich nicht mehr von ihrer Hand zu lösen, geht Carmel im Gedränge dennoch unter und versteckt sich unter einem Tisch, um für sich zu sein. Nach einiger Zeit taucht der ältere Herr aus dem Zelt wieder auf und erklärt ihr, dass ihre Mutter einen schrecklichen Unfall hatte und sie darum mit zu ihm müsse, weil er ihr Großvater sei, den sie nie kennengelernt hat. Verloren und gutgläubig wie sie ist, geht sie mit ihm und entgleitet ihrer Mutter so sprichwörtlich aus den Händen.

Ab da beginnen zwei verschiedene Geschichten, die von Carmel und ihrer Mutter erzählt werden. Nunmehr nicht dasselbe Geschehen beschreibend, erhält der Leser abwechselnd Einblicke in das Leben von Beth, die schier umkommt vor Sorge und von Carmel, die bei dem älteren Herren, den sie erst noch Grandpa nennt, und dessen Lebensgefährtin Dorothy lebt.
Während Beth beginnt die Tage zu zählen, sie in einer Art Tagebuch festhält und am Anfang noch keine Sekunde ohne einen Gedanken an Carmel und der sinnlosen Suche nach ihr verbringt, sieht sich Carmel dem neuen Leben bei "ihren Großeltern" gegenübergestellt. Der Ort ist Carmel unbekannt, sie reisen ständig von einem Ort zum nächsten, sie scheinen ihr Medikamente zu geben und sie verliert jegliches Gefühl für Raum und Zeit, sodass sie sogar ihren 9. Geburtstag verpasst, weil niemand sie daran erinnert. Dabei versucht Carmel nicht zu vergessen, wer sie ist und wo sie herkommt, sie sagt sich ihren Namen in Gedanken auf wie ein Mantra, weil sie nun nur noch Mercy genannt werden soll und ihre alte Kleidung, darunter ihr geliebter roter Mantel, durch unpassende Kleidchen ersetzt wird. Es entsteht ein Kampf um ihre Identität und um das Vergessen, -dabei zeigt sich Carmel aber so willensstark, dass man als Leser nur Bewunderung für das kleine Mädchen verspürt, weil sie auf ihren Namen besteht, weil sie weiterhin ihre Neigung zu roter Kleidung durchsetzt, indem sie auf einen neuen roten Mantel besteht, und wissbegierig bleibt. Mit den Zwillingen Silver und Melody, die Töchter von Dorothy, die sie aus Mexiko mitbrachte, spielt sie Schule und unterrichtet die Mädchen über das, was sie früher selbst in der Schule lernte. Man realisiert, dass es die kleinen Dinge sind, auf die es ankommt, die einen Menschen prägen und die letztlich die Prinzipien sind, auf die Carmel besteht, um sich nicht selbst zu vergessen und in diesem neuen Leben bestehen zu können, das aus christlichem Fanatismus des alten Herren und der unbeständigen Beziehung zu Dorothy besteht, die Carmel in einem Moment etwa sowas wie ein Mutter-Ersatz ist und ihr im nächsten Moment Gefühlskälte entgegenbringt. Nachdem sie Carmel erklären, ihre Mutter sei gestorben und ihr Vater hätte kein Interesse mehr an ihr, weil er ein neues Leben beginnen müsse, findet Carmel Trost bei der gutherzigen Melody, die ihr zur Schwester wird.

Auch Beth klammert sich an die kleinen Dinge, um einen Bezug zu ihrer verloren gegangenen Carmel herstellen zu können. Von roten Schuhen, die sie einst mit ihr vor dem Schaufenster betrachtete und die sie nun kauft, um einen Teil ihrer Tochter bei sich zu haben, über eine Skizze in Carmels Zimmer, die sie zeichnet, um jede Person zu erfassen, die jemals mit ihr Kontakt hatte und möglicherweise etwas wissen oder der potentielle Entführer sein könnte. In dieser schweren Zeit findet Beth zu Kraft, indem sie sich sich selbst stellt. Sie zwingt sich dazu, routiniert die kleinen Dinge des Alltags anzugehen, wieder einer Beschäftigung nachzugehen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben, weil sie in diesem einen Moment nicht an Carmel denkt und vor allem sich nicht mehr selbst für die Entführung ihrer Tochter verantwortlich zu machen, woran sie aber bis zuletzt festhält.
Über die Jahre wachsen Carmel und Beth über sich hinaus, werden stärker, händeln ihr Schicksal und vergessen sich dabei nie.
Beth macht eine Ausbildung zur Krankenschwester, verträgt sich mit ihren Eltern, hat nun regelmäßig Kontakt zu ihnen und versöhnt sich mit ihrem Ex-Mann Paul und dessen Lebensgefährtin. Mit der Zeit werden sie Freunde, geradezu Leidensgefährten und geben einander Kraft.

Carmel bleibt weiterhin stark und wächst zu einer jungen Frau heran. Der ältere Mann, der in ihr eine Art Engel sieht, weil er glaubt, ihre Hände besitzen Heilkräfte, führt sie in diversen Gemeinden vor und will Geld verdienen, indem Carmel die Kranken heilt. Dieses Vagabundenleben führen Carmel und Gramps, wie sie ihn später nennt, auch dann noch weiter, als Dorothy und ihre Zwillinge in einer Nacht- und Nebelaktion und mit allem Geld zurück nach Mexiko fliehen.
Im letzten Teil des Romans findet der Leser die mittlerweile 14-jährige Carmel wieder, die relativ ärmlich noch immer mit Gramps in einer Art Wohnmobil durch Amerika fährt und wieder bei einer großen Veranstaltung als Wundermädchen Mercy die Hände auflegen soll, um damit Geld zu verdienen. Doch Carmel ist kein kleines Mädchen mehr, sie und der ältere Mann sind zu etwas wie einem Team zusammengewachsen. Beide wurden älter, sie jedoch selbstbewusster, bestimmter und reifer, er eher betagter, verwirrter und schwächer. Sie leben gewissermaßen in einer Symbiose, sind eine Lebensgemeinschaft und voneinander abhängig, ohne dass sie das eigentlich wollen.
Er, der panische Angst hat, dass sie ihm ihr wegnehmen könnten und sie, die noch immer im Irrglauben ist, er sei ihr Großvater und die noch immer nicht ihre Familie vergessen hat.

Ein überraschendes Ende dieses Lebens ergibt sich durch den Abbruch der Großveranstaltung wegen eines Polizeieinsatzes, wo Gramps letztlich wegen unbekannter Straftaten verhaftet wird. Carmel, die dabei zurückbleibt, verschlägt es später am Abend in ein Diner, von wo sie offenbar Kontakt zu ihrem alten Leben aufbaut.
Wieder wechselt die Perspektive zu Beth, die nach all den Jahren ihre Carmel nie vergaß, aber mittlerweile wieder ein geordnetes Leben hat und urplötzlich zusammen mit ihrem Ex-Mann auf die Polizeistation gerufen wird, weil Carmel gefunden wurde.

Als Leser kommt man kaum hinterher, so schnell ändert sich das Geschehen und so glücklich ist man, als Carmel, Beth und Paul am Ende wieder zueinander finden.
Der letzte Abschnitt von Beth lautet: "Ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen, dass sie mich nicht erkennt, wirklich nicht. Sie weiß sofort, wer ich bin." und man möchte Freudentränen weinen, man kann die ungläubige Freude absolut nachvollziehen und möchte so gerne wissen, wie es weitergeht. Was sie sich zu erzählen haben, wie sie ihr gemeinsames Leben meistern werden, wie man nach all den Jahren voller Hoffen und Bangen eigentlich wieder ein normales Leben führen kann.
Aber dann klappt man das Buch zu und möchte diese kleine Familie mit sich selbst alleine lassen, ihr die Ruhe und Privatsphäre gönnen, die ihr in den letzten Jahren verwehrt blieb und sie einfach glücklich sein lassen.


Dieser Roman ist vollgepackt mit Emotionen, die einen nie überwältigen, weil man immer um den Verbleib der jeweils vermissten Person weiß. Aber man möchte so gerne eingreifen, möchte Beth erklären, dass es Carmel gut geht und Carmel sagen, dass nicht zu gutgläubig sein, dass sie nicht alles glauben soll und ihre Mutter noch lebt. Vermutlich wäre dies aber sinnlos gewesen. Beide Figuren sind mit so viel Intuition und Authentizität ausgestattet, dass sie mehr spüren, was sie nicht wissen können.
Die verschiedenen Stationen beim Verlust eines geliebten Menschen sind sehr gut und realistisch dargestellt, jede Gefühlsregung kauft man den Figuren ab, doch immer bleibt die schiere Verzweiflung, weil man nicht weiß, wo der vermisste Mensch ist.
Anders als bei Carmel bleibt bei Beth immer die Frage nach dem Verbleib ihrer Tochter offen, sie kann nicht mit dem Geschehen abschließen, kann das Schicksal nicht hinnehmen, weil immer die Hoffnung bleibt, dass ihre Tochter doch noch gefunden wird. Carmel hatte damit eine Art Schrecken mit Ende, -so schlimm es war, zu begreifen, dass ihre Mutter gestorben war, desto eher konnte sie aber daran wachsen, ihre Situation akzeptieren, sich den Geist ihrer Mutter einbilden, der ihr Mut wünscht, und erwachsen werden, indem sie ihr Schicksal hinnahm und das Beste daraus machte.

Dieses Geschichte ist sehr intensiv, sie berührt einen mit wahren Gefühlen, mit ihrer Echtheit und lässt einen am Leben der beiden Hauptfiguren teilhaben. Man ist so nahe am Geschehen, dass man nicht nur Beobachter ist, sondern auch alle Sorgen, Wünsche und Hoffnungen teilt.
Ein Roman, der aufwühlt und darum absolut lesenswert ist. 5 Punkte.