Der Absolutist

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Zum Autor

John Boyne, geboren 1971 in Dublin, studierte englische Literatur und Kreatives Schreiben. Er lebt und arbeitet nach wie vor in seiner Geburtsstadt. Von ihm sind bisher mehrere Romane, Essays, Kurzgeschichten und Artikel erschienen. Sein viertes Buch, „Der Junge im gestreiften Pyjama“ (2006), wurde mehrfach ausgezeichnet und 2007 auch verfilmt. Die englische Originalausgabe des hier vorliegenden Romans erschien 2011 unter dem Titel „The Absolutist“.
 
Zum Buch

Der Arche-Verlag hat dieses Werk in gebundener Form und mit einem sehr attraktiven Schutzumschlag aufgelegt: Ein gepflegter junger Mann schaut schwermütig, fast anklagend aus einem Zugfenster und blickt dem Betrachter direkt in die Augen. Er scheint über nicht ausgesprochene Dinge zu sinnieren, die offensichtlich gemeinsam mit ihm wieder abreisen. Dieser Schutzumschlag mit dem Bild des schweigenden Abschiedes passt hervorragend zu dem Inhalt des Romans, den er umhüllt. Die Kartonage ist tiefrot, so dass man beim ersten Aufschlagen des Buches beinahe den Eindruck bekommt, eine mit samt ausgeschlagene Schatulle zu öffnen. Hochwertige Papier- und Druckqualität machen den positiven Erst-Eindruck komplett.

Zum Inhalt

Knapp ein Jahr nach Ende des 1. Weltkrieges reist der 20 Jahre alte Tristan Sadler von London nach Norwich. Er will sich mit der Schwester seines Freundes Will Bancraft treffen, um ihr die Briefe an den verstorbenen Bruder wiederzubringen. Gemeinsam mit Will wurde Tristan Sadler für den Einsatz an der Front ausgebildet. Er kämpfte mit ihm in Frankreich Seite an Seite, bis Will nach einem Zwischenfall seine Waffe niederlegte und schließlich als Verweigerer exekutiert wurde. Eine Tatsache, die seither Scham und Unehre über die Familie Bancraft brachte. Das eigentliche Wissen aber, das Tristan Sadler mit sich trägt, wiegt noch sehr viel schwerer und lastet – bisher unausgesprochen – bleiern auf seiner Seele.
 
Mein Leseeindruck

Ich erinnere mich noch genau, dass ich mich nach der Leseprobe fragte, wie ein Buch damit beginnen kann, dass eine ältere Dame im Zugabteil sitzend, über ihre in den letzten Jahren begangenen Morde nachdenkt. Nachdem ich aber diesen Roman innerhalb kürzester Zeit regelrecht „verschlungen“ hatte, wusste ich, dass dieses Buch noch sehr viel mehr kann. Es konnte mich begeistern, bestürzen, belehren, verfolgen, entsetzen, unterhalten, faszinieren, abstoßen, überraschen, aufklären, beschäftigen und … und… und …
Ich könnte diese Liste noch seitenlang fortsetzen.

John Boyne schreibt „Das späte Geständnis des Tristan Sadler“ in einer durchweg „dahinfließenden“, ruhigen, melancholischen Stimmung. Die Ereignisse in Gegenwart und Vergangenheit werden von der Hauptperson Tristan erzählt und durch zahlreiche Dialoge sehr lebendig dargestellt. Natürlich steigt und fällt die Spannungskurve enorm, ändert sich die Seelenlange des Erzählers mitunter rapide. Und dennoch bleibt bei allen Höhen, Tiefen und Längen dieser Geschichte immer dieselbe leise klagende, beinah leicht ins Depressive kippende und doch fesselnde Stimmung. Sie hatte mich von Anfang bis zum Ende der Geschichte gefangen gehalten, und ich mochte dieses Buch kaum aus der Hand legen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Boyne’s Namensgebung für seine Hauptfigur, den in seiner Jugend von Eltern und Freunden verstoßenen, schicksalsgeprüften, schwermütigen Tristan Sadler. „Tristan“, lateinischen Ursprungs, lässt sich auch in der französischen Sprache im Wort „triste“ wieder finden. „Sad“ bedeutet im Englischen genau dasselbe, nämlich traurig und trübsinnig. Eine ausgesprochen passende Namenskombination aus den Sprachen der beiden Länder, in denen im wahrsten Sinn des Wortes Tristan Sadlers Schicksal geschrieben wird.

Eigentlich ist das von Boyne gewählte Szenario überhaupt nicht meine Welt: junge Soldaten an der Front, Krieg, Verletzte und Tote, Militärdrill und dazwischen zarte Liebe und enttäuschte Freundschaft. Dennoch haben mir der Grundgedanke, den diese Geschichte in sich birgt, der eingängige, ruhige Schreibstil des Autors und die Gliederung des Buches wirklich sehr zugesagt. In sechs Kapiteln wechselt die Erzählung immer wieder zwischen vergangenen Ereignissen im Jahre 1916 und der Gegenwart 1919.

Den siebten und letzten Abschnitt empfand ich persönlich als überraschend und bereichernd. Das tatsächliche Geständnis und das wahre Eingeständnis legt Tristan Sadler, der Absolutist, der alleinige und uneingeschränkte Kontrolleur seines Lebens, vor sich selbst erst und endlich 1979 - auf den allerletzten beiden Seiten des Romans - ab.

Ein gutes Ende eines guten Buches.