Der Kriegsdienstverweigerer

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buecherfan.wit Avatar

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John Boynes Roman “Das späte Geständnis des Tristan Sadler” erzählt die Geschichte von zwei Freunden zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Tristan Sadler und Will Bancroft lernen sich im Jahr 1916 im Ausbildungslager Aldershot kennen, wo sie auf ihren Einsatz in Nordfrankreich vorbereitet werden. Sie werden Freunde und stehen gemeinsam die schikanöse Grundausbildung unter Sergeant Clayton durch. Dann werden sie an die Front geschickt, aber nur einer von ihnen kommt lebend zurück. Neun Monate nach seiner Rückkehr nimmt Trístan Sadler Kontakt zu Marian Bancroft auf, der Schwester seines toten Kameraden Will, um ihr ein Bündel Briefe zurückzugeben, die sie dem Bruder während des Krieges geschrieben hat. Schon die ersten Szenen im Zug von London nach Norwich, in der Pension und im Pub in Norwich zeigen, dass sich hinter dem Wunsch, Marian Bancroft zu sehen und zu sprechen, ein Geheimnis verbirgt, eine schwere Schuld, die Tristan Sadler quält.

Der Autor berichtet abwechselnd über diese Begegnung und in langen Rückblenden über das Kriegsjahr 1916, in dem sich die entscheidenden Ereignisse abgespielt haben. Obwohl der Leser schon frühzeitig ahnt, worauf alles hinausläuft, worin Tristans Schuld besteht, erfahren wir erst gegen Ende des Romans alle Einzelheiten über die letzten Stunden von Will Bancroft.

Der Roman schneidet eine Vielzahl von Themen an. Es geht nicht nur um die Freundschaft zweier junger Männer, die zumindest zeitweise eine starke Anziehung verbindet, sondern auch um Fragen der Moral, um den Unterschied von Gut und Böse inmitten des schrecklichen Gemetzels, um Mut und Feigheit, Schuld und Sühne. Der Roman zeigt die Intoleranz der damaligen britischen Gesellschaft, die aus heutiger Sicht antiquierten Moralvorstellungen, aber auch die tiefe Kluft, die nach dem Krieg diejenigen, die an der Front gekämpft haben, von denen trennt, die zu Hause überlebt haben. Da sind die große Verbitterung derjenigen, die zu jung oder untauglich für den Kriegsdienst waren und die Wunden, die der Krieg geschlagen hat, weil Zigtausende umgekommen sind.

Der Autor lässt natürlich auch den Kriegsschauplatz selbst nicht aus, obwohl seine Darstellung dabei oft wenig konkret erscheint. Alles spezifisch Militärische bleibt überwiegend außen vor. Beide Seiten haben sich in ihren Schützengräben verschanzt und versuchen von dort, Land einzunehmen. Der Autor berichtet über die täglichen Verluste auf englischer Seite und das harte Leben der Soldaten unter dem wahnsinnigen Vorgesetzten Clayton, der seine Männer gnadenlos in den Tod schickt. Auch für die Beschreibung der Schützengrabenerfahrung verwendet der Autor im wesentlichen sattsam bekannte Klischees: der Schlamm, die Ratten, die Läuse…

Wenn man andere Romane über die beiden Weltkriege gelesen hat, vergleicht man unwillkürlich. Ich denke dabei an Pat Barkers großartige Regeneration-Trilogie über den Ersten Weltkrieg - vor allem an den ersten Band “Niemandsland” ("Regeneration") -  und Ian McEwans  “Abbitte” (“Atonement“) über den Zweiten. Diese Romane sind ganz große Literatur. Sie berühren und schockieren den Leser und entfalten eine wesentlich stärkere Wirkung als Boynes eher distanzierter, kühler und ein wenig altmodisch wirkender Roman. Der bleibende Eindruck ist hier der einer Tragödie ohne jeden Lichtblick, denn wenn die Romanhandlung im Jahr 1919 einsetzt, ist das Leben des 21jährigen Tristan eigentlich schon gelaufen, zumal die tragischen Ereignisse vor dem Kriegseinsatz beginnen, als er mit 16 Jahren aus dem Elternhaus geworfen wird. Der etwas seltsame und vielleicht überflüssige Epilog über einen Zeitpunkt sechzig Jahre später zeigt, auf welche Weise Tristan Sadler für eine Schuld büßen will, für die er nie Vergebung erlangt hat, vor allem nicht vor seinem eigenen Gewissen.

Es ist schwierig, über Boynes Roman zu schreiben, ohne zu viel zu verraten. Umso erstaunlicher finde ich es - wie schon so oft -, dass der deutsche Titel ungleich mehr preisgibt als der Originaltitel “The Absolutist”. Der englische Titel weist nicht auf Tristans Geständnis einer schlimmen Tat hin, sondern beleuchtet einen anderen Aspekt des Romans: Ein “absolutist” ist ein Verweigerer, der jeglichen Beitrag zum Kriegsgeschehen ablehnt, also nicht nur die Teilnahme an Kampfhandlungen. Damit steht Will Bancroft im Mittelpunkt und nicht Tristan Sadler, denn auch darum geht es hier: Ein erklärter Pazifist katapultiert sich angesichts der besonders patriotischen Gesinnung der Mehrheit in Kriegszeiten natürlich ins Abseits, wird als Drückeberger und verdammter Feigling beschimpft und riskiert sein Leben. Seine Familie leidet unter der gesellschaftlichen Ächtung.

Als Fazit lässt sich sagen, dass John Boyne ein interessanter, gut lesbarer Roman über einen furchtbaren Krieg gelungen ist, der aber nicht so überzeugt wie seine oben genannten berühmten Vorgänger.