Mut und Feigheit, Liebe und Schuld

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alasca Avatar

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Tristan Sandler reist nach Norwich, um der Schwester seines Kriegskameraden Will die Briefe zurück zu geben, die sie dem Bruder an die Front des Ersten Weltkrieges geschrieben hat. Will ist dort wegen Feigheit vor dem Feind von seinem Regiment hingerichtet worden, und Tristan, der ihm nahestand, hat offenbar eine schlimme Geschichte zu erzählen. Die Schwester aber, voller Trauer und Zorn, macht es ihm nicht einfach, und so dauert es bis kurz vor seiner Abreise, bis er den Mut aufbringt, ihr seine Geschichte zu erzählen.

John Boyne nutzt die Kulisse des Ersten Weltkrieges, um die Liebesgeschichte zweier Homosexueller zu erzählen, in einer Welt, die Homosexualität kriminalisierte, so dass die Betroffenen ihre Neigung nicht leben, manchmal nicht einmal sich selbst eingestehen konnten. Vor diesem Setting entwickelt er seine Themen: Mut und Feigheit. Liebe, Freundschaft, Schuld. Will und Tristan haben sich beide aus Patriotismus freiwillig gemeldet und freunden sich während der Grundausbildung schnell an. Will  ist der Nachdenklichere der beiden Freunde, und durch die Begegnung mit einem Kameraden, der als Kriegsdienstverweigerer auf das Urteil des Militärtribunals wartet, stellt er bald das Ideal des mutigen Kriegshelden infrage. Je mehr er sich mit dieser Frage auseinandersetzt, desto mehr kann er dessen Standpunkt abgewinnen, bis ein grausames Fronterlebnis ihn veranlasst, eine extreme Position zu beziehen: die des Absolutisten (Originaltitel). Tristan jedoch, im Wahnsinn des Grabenkrieges nur noch am Überleben interessiert, will nichts hören von Prinzipien. Er würde, wie der Autor ihn sagen lässt, jederzeit für einen Menschen sterben, aber niemals für ein Prinzip. Jetzt, knapp ein Jahr nach den Ereignissen des Krieges, ist für Tristan klar: der tote Freund ist ein Held, der für seine Überzeugung bereit war, zu sterben. In seinem Heimatort gilt Will als Schande, so dass man seiner Familie verweigert, seinen Namen auf dem Denkmal für die Gefallenen aufzunehmen. Und so ist Tristans Sichtweise der der Öffentlichkeit diametral entgegen gesetzt – aber ist sie deshalb richtiger? Oder gerecht?

 

Die Geschichte beginnt gemächlich, springt zwischen den Kriegserlebnissen und Tristans Begegnung mit Marian ständig hin und her und gewinnt zunehmend an Momentum. Der Autor versteht es, die Spannung stetig zu erhöhen, bis zur überraschenden, schockierenden Auflösung, die einen begreifen lässt, warum der Protagonist sich so mit Schuldgefühlen quält, dass sie sein ganzes Leben beherrschen werden.

 

Ich hatte größtes Mitgefühl mit Tristan Sadler, was nicht jedem so ging, der dieses Buch gelesen hat. Aber gerade dieses Schwarzweißdenken ist es, das John Boynes Geschichte infrage stellen will: Die Sicherheit des Urteils derer, die ganz genau wissen, was sich gehört und was nicht, und die Willkür der geltenden Moral, die zu nichts anderem dient, als den Status quo zu legitimieren.

 

Ein beeindruckender, dabei sehr lesbarer Roman, der klarmacht, dass es kein Schwarz oder Weiß gibt - und der Autor versteht es, den vielen Grautönen Farbe zu verleihen.