Die Schattenseiten von Tel Aviv

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roomwithabook Avatar

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Eins vorweg: Es gab Zeiten, in denen ich wirklich viele Krimis gelesen habe, und die meisten könnte ich vermutlich heute erneut lesen, weil ich mich nicht mehr an die Auflösung der Fälle erinnern kann (geschweige denn an die Fälle selbst). Jetzt greife ich nur noch selten zu Kriminalgeschichten oder Thrillern, auch wenn es ein paar Reihen gibt, die ich dann und wann noch zur Entspannung lese. Allerdings sind die meisten Ermittler (selten sind es Frauen) vom Typ einsamer Wolf, der viel trinkt und raucht und auf eigene Art die Fälle löst.
Der Privatdetektiv Oded Chefer aus Tel Aviv ist da ganz anders, es wird zwar auch hier durchaus viel getrunken und geraucht (das muss offensichtlich sein), dafür ist Oded aber erstens sehr gesprächig und zweitens queer. Überhaupt ist er ein eher schwieriger Charakter, der einem gehörig auf die Nerven gehen kann. Doch genau das mochte ich, er ist ziemlich egoistisch und gleichzeitig von den Verletzungen seiner Jugend geprägt, spricht gern von sich in der weiblichen Form, hofft auf den Durchbruch, um endlich auf die richtigen Partys gehen zu können, und verguckt sich auch mal in einen gut aussehenden Security-Mann, selbst wenn das angesichts des zu lösenden Falls keine gute Idee ist.
Der Fall an sich scheint auf den ersten Blick nicht besonders kompliziert zu sein: Oded soll herausfinden, warum die 15-jährige Carine kein Interesse mehr an ihrer geplanten Karriere als Popstar hat, obwohl das Studio schon gebucht wurde. Sein Auftraggeber ist Binyamin Direktor, ein Strippenzieher der israelischen Medienwelt und auch derjenige, der schon einiges in Carine investiert hat.
Leider gibt es dann noch einen zweiten Fall, eine junge trans Frau und Bekannte von Oded verschwindet nach einer Party von Direktor, ihre besorgte Mitbewohnerin bittet um seine Hilfe, doch er will lange nicht wahrhaben, dass hier möglicherweise ein Verbrechen geschehen ist. Auch gibt es Hinweise, dass beide Fälle zusammenhängen könnten, die Oded jedoch recht lange erfolgreich ignoriert. Doch irgendwann muss er sich entscheiden, ob ihm der ersehnte schnelle Ruhm oder seine Community wichtiger sind.
Yonatan Sagiv zeichnet in seinem Roman ein Bild von Israel, das von seinem Umgang mit Palästinenser*innen, Migrant*innen und Minderheiten geprägt ist, Rassismus und ökonomische Unterschiede fungieren als stetiges Hintergrundrauschen.
Wie so häufig in Kriminalgeschichten ist der eigentliche Fall eigentlich gar nicht so wichtig, viel mehr geht es um ein gesellschaftliches Porträt, das die Schwachstellen offenlegt, über die man gern hinwegsieht. Oded selbst hat einen ziemlichen Nachholbedarf, was den Umgang mit anderen angeht (und dass ein rassistischer Begriff ausgeschrieben wurde, hätte idealerweise anders gelöst werden können), aber man traut ihm durchaus zu, dass er lernfähig ist.