Queeres Ermitteln

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Carine Carmeli – gefeierte Newcomerin im Pop-Geschäft, Stil-Ikone für die Teenager-Mädels Israels und verwöhntes, 15-jähriges It-Girl! Privatermittler Oded Chefer soll sich der jungen Nachwuchskünstlerin annehmen und stößt dabei schnell an seine Grenzen. Denn Carine, die von einer depressiven Verstimmung in die nächste hinübergleitet, ist nicht bereit zu reden. Sein Auftraggeber Binyamin Direktor, angesagtester PR-Manager der Stunde, erwartet, dass Oded diesen Stimmungslagen auf den Grund geht. Gefangen im Strudel aus Glamour, Glitzer und Prunk hilft es Oded nun auch so gar nicht, dass Direktors rechte Hand Stas Omansky ihn komplett aus der Bahn wirft und er dessen Reizen erliegt. Aus dem Nichts tritt eine weitere Ungereimtheit auf den Plan: Eine trans* Frau ist wie vom Erdboden verschwunden. Nach und nach kristallisieren sich Verbindungen heraus, die Oded zunächst nicht erkennt. Zwiespälte tun sich auf zwischen der Loyalität zu seinem Auftraggebern auf der einen und zur queeren Community auf der anderen Seite. Oded muss Entscheidungen treffen...

„'Du bist nicht allein', sage ich leise. In der Stille des Badezimmers klingen die Worte so falsch wie die schamloseste Lüge“ (S. 243)

Ein queeres Umfeld, eine Diversität versprechende Figurenkonstellation und Tel Aviv als Setting – das verspricht einen Roman ganz nach meinem Geschmack. Dass es sich bei „Der letzte Schrei“ jedoch um einen Kriminalroman handelt, hat mich zunächst ein wenig skeptisch gemacht, liegt mir dieses Genre doch nicht unbedingt besonders nahe. So lag mein Fokus zunächst auf der Gestaltung des Drumherum, weniger auf der auf der Plot-Ebene dominanten Spannungshandlung.

Sagiv ist mit seinem Roman eine wahrlich sprachlich wie thematisch spannende Milieustudie gelungen. Tief tauchen wir mit Privatermittler Oded Chefer in das queere Tel Aviv ein, lernen ihn nicht nur als homosexuell orientierten Mann kennen, sondern nehmen ihn durch seinen sprachlichen Ausdruck auch als festen Bestandteil der queeren Gesellschaft wahr. Da verschwimmen ein um das andere Mal die Geschlechtergrenzen, bezeichnet er sich doch selbst als Frau, gibt sich weibliche Pronomen und verwischt damit heteronormative Zuschreibungen. Gleichzeitig erleben wir ihn als innerhalb seiner Bubble zutiefst verunsicherten, gerade auch der trans* Community gegenüber nicht immer gut informierten Charakter. Er spiegelt damit die Grabenkämpfe, die auch innerhalb der LGBTQIA+-Gesellschaft ausgetragen werden, und führt uns vor Augen, dass es für jede*n noch viel zu lernen gibt, was Akzeptanz, Toleranz und Respekt vor uns fremden Lebensrealitäten angeht. Dieses Spektrum der Gesellschaft wird durch den Fokus auf die High Society und Medienwelt noch verstärkt, und die Fragilität von Oded Chefer spitzt sich im Laufe des Romans immer weiter zu. Diese permanente Selbstherabsetzung des Privatermittlers, der sich optisch und charakterlich als nicht ausreichend empfindet, zieht sich mantraartig durch den Text – was leider auf Dauer ein wenig ermüdend wirkt und die Position von Oded massiv schwächt. Ein Interesse oder gar eine Sympathie für den oftmals leidenden, stetig jammernden Mann zu entwickeln, fällt da im Fortgang der Geschichte zunehmend schwer.

Im Gegensatz zu der strahlenden Präsenz von Diversität in Israel, die jedoch nur an der Oberfläche so prägnant wirkt und im inneren Kern noch großen Nachholbedarf an Akzeptanz hat, steht die Kriminalgeschichte. Diese ist leider für meinen Geschmack arg dünn und dient lediglich als Vehikel für die sozialkritischen Betrachtungen, die nicht nur spannender, sondern auch literarisch wesentlich kunstvoller eingearbeitet sind. So entsteht für mich bei „Der große Schrei“ ein sehr zweigeteilter Eindruck. Den Roman als wesentlichen Beitrag zur Sichtbarkeit von Queerness in nicht-mitteleuropäischen Gesellschaften zu zeigen erschließt sich mir komplett; das ist stark und kreativ gemacht. Den Kriminalfall hätte ich dafür nicht benötigt!