Ein komplexes Meisterwerk

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fraedherike Avatar

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„Die schlimmsten Verletzungen sind nicht die, die wir sehen.“ (S. 319)

Einst waren sie einander nahe wie Pech und Schwefel, doch nach dem Tod ihrer Eltern Charlotte und Troels haben sich die drei Geschwister der Familie Gabel auseinandergelebt, haben ihre eigenen Fährten in die Welt beschritten. Die stille Sidsel wohnte alleinerziehend mit ihrer Tochter in Kopenhagen und arbeitet als Restauratorin im Museum, während ihr älterer Bruder Niels keinen festen Wohnsitz hat, als Plakatierer durch die Kopenhagener Straßen zieht. Beide wissen sie, dass ihr Leben so nicht weitergehen kann, aber etwas hält sie davon ab, in die Zukunft zu blicken. Ähnlich geht es ihrer großen Schwester Ea: Sie lebt seit einigen Jahren glücklich mit ihrem Lebensgefährten und ihrer Stieftochter in San Francisco – wenn da nicht ihre ständigen Gedanken an ihre Kindheit wären. Auf den Rat einer Freundin hin nimmt sie schließlich mithilfe einer Seherin Kontakt zu ihrer verstorbenen Mutter auf. Und so wird das Schicksal angestoßen, die Karten für die drei Geschwister neu zu mischen, und sie sehen sich bald gemeinsam mit Aufgaben konfrontiert, die nicht nur die Zukunft beeinflussen sollen.

In „Der Panzer des Hummers“ (OT: Hummerens Skjold, aus dem Dänischen von Ursel Allenstein) beschreibt Caroline Albertine Minor eine höchst komplex verschachtelte, intensive Geschichte, die gleichzeitig wie eine Offenbarung daherkommt, ein Denkanstoß, sich aus alten Mustern zu lösen, frei zu machen, aus dem Schmerz einer Situation Kraft zu schöpfen, um gestärkt, gewachsen daraus hervorzugehen – wie ein Hummer seinem Panzer entwächst, um einen neuen zu suchen, der passender ist. Humorvoll, aber mit der nötigen Ernsthaftigkeit skizziert Minor zunächst fragmentarisch die gegenwärtige Situation der drei Geschwister sowie der Seherin Beatrice, die alle ihre Päckchen zu tragen haben: Sidsels Tochter ist aus einer Affäre hervorgegangen und der Vater im Unklaren über sein Kind, Niels steht vor der Obdachlosigkeit, Eas Geheimnis vor ihrem Lebensgefährten droht sie zu zermürben, Beatrice leidet unter der Scheidung von ihrer Frau und der Ungewissheit, wer der Vater ihrer Tochter sein könnte. Sie alle haben sich in unterschiedliche Himmelsrichtungen austariert, und doch sind sie durch ihre Konflikte verbunden. Scheinbar mühelos entspinnen sich Handlungsfäden, die sie alle miteinander verbinden, etwaige Handlungen bedingen und fördern, was in der Gänze manchmal verwirrend sein kann, mit Ruhe und Konzentration aber faszinierend zu beobachten ist. Geradezu mystisch verläuft parallel die Geschichte von Charlotte und Troels, den Eltern, die „in einer anderen Welt“ aufeinandertreffen, und in Konflikt ob der Vergangenheit, ihrer Ehe geraten. Mir gefällt, wie jede*r Protagonist*in eine ganz eigene Tonalität erhält, einzigartig wird, und welche Themen die Autorin mal mehr, mal weniger intensiv behandelt: Elternschaft, Unfruchtbarkeit, die Tücken der Sozialen Medien und der Einfluss auf die Gesellschaft ebenso wie Queerness und Spiritualität. Teilweise zog sich die Erzählung sehr in die Länge, wurden Anekdoten erzählt, die zwar nett daherkommen, für die Handlung jedoch irrelevant erscheinen und die Spannung raubten.

Insgesamt jedoch hat mich der Roman sehr gut unterhalten, haben mir besonders das deutlich spürbare emotionale Wachstum der Charaktere gefallen sowie die feinen, faszinierenden Verbindungen, die sie alle unbewusst umflicht und die Komplexität unserer eigenen Welt sowie ihre sprichwörtliche „Winzigkeit“ widerspiegelt. Der Roman ist anders, speziell und erfordert einiges an Aufmerksamkeit, wahrlich nicht massenkompatibel, aber wer das Wagnis eingeht, soll belohnt werden.