Lesenswerte Wiederentdeckung

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leukam Avatar

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Die Ich- Erzählerin Heleen, eine Frau Ende Dreißig, Anfang Vierzig, ist seit Monaten zur Beobachtung in einer Nervenheilanstalt. Bisher hat sie geschwiegen, doch nun hat sie das Bedürfnis, jemandem ihre Geschichte anzuvertrauen. Sie setzt sich zur Nachtschwester und beginnt zu erzählen, von Anfang an.
Wir sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem Städtchen in den Niederlanden. Heleen wächst in ärmlichen Verhältnissen in einer kinderreichen Familie auf. Schon früh muss sie als Älteste Verantwortung übernehmen. Um ihre Mutter zu entlasten, kümmert sie sich um die neun Geschwister. Mit 13 Jahren schon findet sie Arbeit als Schneiderin und trägt so zum Unterhalt ihrer Familie bei. Dabei weckt das hübsche Mädchen das Interesse eines Handelsvertreters. Heleen nutzt seine Verliebtheit, um der Enge des Elternhauses zu entfliehen. Er besorgt ihr eine Wohnung und eine Anstellung in der Stadt. Auch hier erkennt die junge Frau ihre Chancen. Sie hat Erfolg, steigt auf, bleibt aber einsam.
Eine Ehe mit einem weitaus älteren Mann verschafft ihr gesellschaftliches Ansehen und Wohlstand. Doch schon zwei Jahre später bricht sie aus dieser unglücklichen Verbindung aus. Nach dem Tod der Mutter nimmt sie ihre jüngste Schwester Lientje bei sich auf und als sie dem ein paar Jahre jüngeren Hannes begegnet, ist ihr Glück vollkommen. Trotzdem steuert alles auf eine Katastrophe zu, die sie hierher, in die Psychiatrie, gebracht hat.
Der Roman ist bereits 1930 erschienen. Das mag man kaum glauben, so modern mutet er an.
Die Protagonistin ist nicht typisch für ihre Zeit und der Literatur dieser Zeit. Schon früh weiß sie, was sie will und steuert zielstrebig darauf zu. „ Ich war tatsächlich ein wenig anders als die anderen jungen Frauen. Ich traute mich etwas und tat, was mir beliebte;...“
Sie schafft es, sich aus ihrem Milieu zu befreien und aufzusteigen, auch wenn sie dafür ihren Preis zahlen muss. Abschreckend mag das Beispiel ihrer Mutter ihr vor Augen stehen. „ ...ob Mutter wusste, dass sie lebend in der Hölle gelandet war.“
Ihre Schönheit verleiht ihr Macht über Männer. Das weiß sie bald, für ihre Zwecke zu nutzen.
Heleen ist eine starke und unabhängige Frau, bis sie die Liebe trifft. Da steigert sich ihre Angst, diese wieder zu verlieren, ins Wahnhafte. Es ist erschreckend zu lesen, wie jemand sein Glück zerstört, weil er das Gefühl hat, er habe es nicht verdient.
Die Ich- Erzählerin ist eine Protagonistin, die man nicht so schnell wieder vergisst. Doch sie ist keine Frau, die man ins Herz schließt, kein Opfer, das man bedauert. Das möchte sie auch nicht sein. Immer wieder betont sie, dass niemand Schuld trägt an ihrem Schicksal, dass sie frei ihre Entscheidungen getroffen hat.
Ungewöhnlich ist auch die Erzählweise. Der ganze Roman ist ein langer Monolog, erzählt in zwei Nächten. Adressat eine namenlose Nachtschwester, die aber wenig Reaktionen zeigt auf das Gehörte. Der Leser rückt gewissermaßen in deren Position. Gespannt folgt er der Erzählerin, denn er möchte wissen, was sie hierher gebracht hat in die Nervenheilanstalt.
Das Buch schließt mit einem informativen Nachwort von Judith Belinfante, der Enkelin der Autorin. Diese beleuchtet darin das Leben und das literarische Werk , sowie das politische Schaffen ihrer Großmutter. Marianne Philips war eine Frau, die sich politisch engagiert hat , sich aber auch mit den Abgründen der weiblichen Psyche beschäftigt hat. In „ Die Beichte einer Nacht“ hat die Autorin Teile ihrer eigenen Biographie ( Herkunft und Kindheit ) verarbeitet; das Schreiben an diesem Roman war auch Teil ihrer eigenen Therapie.
„ Die Beichte einer Nacht“ ist kein Buch, das Freude macht beim Lesen. Zu beklemmend die Geschichte, zu schrecklich ihr Ende. Trotzdem lohnt sich diese Wieder- Entdeckung!