Psychogramm

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pawlodar Avatar

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Die Lektüre vermittelt einen intimen Einblick in die seelische Verfassung einer Frau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Ich-Erzählerin gibt vor, gegenüber der Nachtschwester einer psychiatrischen Klinik eine Lebensbeichte abzulegen, aber die Situation legt nahe, dass es sich nur um eine Fiktion handelt. Einerseits lassen die fehlenden Reaktionen der vorgeblichen Zuhörerin vermuten, dass die Kommunikation nur imaginiert ist, andererseits wird sehr deutlich, dass die Gemütslage dieser Frau sie definitiv unfähig macht, sich gegenüber einem anderen Menschen zu öffnen. Die bigotte, frömmelnde Atmosphäre des Elternhauses bildet den Ausgangspunkt zur Ausbildung dieser absoluten Verschlossenheit der Protagonistin. Aufgrund ihrer Position als älteste Tochter wird ihr übermäßig viel Arbeit und Verantwortung für die kontinuierlich wachsende Geschwisterschar aufgebürdet. Glasklar erkennt sie die Lage der vollkommen ausgelaugten Mutter und den schreienden Egoismus des Vaters und seine Verlogenheit. Eine frühe Abtötung aller Regungen ist das Ergebnis ihrer frühen Erfahrungen. Aufschlussreich, dass die klarste und glückhafteste Erinnerung ein vergeblicher Ausbruchsversuch in sehr jungen Jahren darstellt, wenige Stunden eines vorher nie erlebten, aber umso mehr genossenen Alleinseins. Die sich anschließenden Stufen ihrer Entwicklung lassen einen Wesenszug immer deutlicher hervortreten: nie kann sie voller Überzeugung sich ihrer Individualität gewiss sein. In allen Stadien ihrer Berufstätigkeit, in allen Partnerschaften wirkt sie wie ferngesteuert. Im erstgenannten Lebensbereich genügt sie von außen an sie herangetragenen Ansprüchen, in ihren Beziehungen kommt es nie zu einem Miteinander. Gerade in diesem Bereich der Erotik erweist es sich, dass diese Persönlichkeit von Anfang an eingeschränkt, verkümmert, verdorrt ist. Wie pathologisch ihre Charakteranlage ist, erweist sich gerade in der letzten Beziehung, der vollkommen überhöht dargestellten Liebe zu Hannes. Ihm kann sie kein liebendes Gegenüber sein, folgerichtig, dass auch die Bindung an die Schwester sich als Chimäre erweist. Die als Konsequenz sich ergebende Katastrophe sorgt dafür, dass sie zur Insassin einer Heilanstalt wird. Beeindruckend, mit welchem Feingefühl, mit welcher Einsicht bereits im Jahr 1930 eine Autorin ein solches Psychogramm zu zeichnen vermag.