Familien in der Krise

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buecherfan.wit Avatar

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Zu Beginn des Romans steht der einst erfolgreiche Internist Pete Dizinoff vor den Trümmern seiner Existenz. Aus dem gemeinsamen Zuhause vertrieben lebt er in einem Zimmer über der Garage, das seinem Sohn eine Zeit lang als Atelier diente. Zu seinem Sohn Alec hat er keinen Kontakt mehr, seine Frau will die Scheidung - ein Termin beim Anwalt ist vereinbart -, und seine Reputation ist auch dahin. Wegen der geschäftsschädigenden Gerüchte, die in dem kleinen Ort im Umlauf waren, musste er die Praxisgemeinschaft verlassen und hat nun eine Praxis in einer schlechten Wohngegend mit einer ganz anderen Klientel. Außerdem droht ihm nach dem Tod einer Patientin ein Kunstfehlerprozess, der ihn vollends ruinieren würde. Und schließlich ist die lebenslange Freundschaft zu den Nachbarn Joe und Iris Stern ebenfalls zerbrochen. Pete Dizinoff hat vor gut einem Jahr etwas Unverzeihliches getan und damit zwei Familien zerstört.

In Rückblenden wird aus der Sicht des Protagonisten erzählt, was die beiden Familien in die Katastrophe geführt hat. Laura, die Tochter der Nachbarn, soll als 17jährige ihr Neugeborenes getötet haben. Sie verbrachte 2 Jahre in der Psychiatrie und fand dann fern der Heimat durch ein Netzwerk von Verwandten verschiedene Arbeitsstellen. Nach über zehn Jahren kehrt sie als 30jährige nach Hause zurück. Der 20jährige Alec Dizinoff verliebt sich in sie. Diese vor allem von Alecs Vater nicht gewünschte Beziehung führt in die Katastrophe. Schon vorher gab es Probleme mit dem Sohn, der als Teenager straffällig wurde, nach drei Semester das College schmiss und nach erfolgter Anmeldung an einem neuen College seine Ausbildung nicht abschließen, sondern stattdessen seine Bilder in Paris auf der Straße verkaufen will. In dieser Situation mischt Pete Dizinoff sich ein, und der Wunsch, seinen Sohn zu beschützen und ihn sozusagen zu seinem Glück zu zwingen wird zur Obsession.

Der Roman ist als scharfe Kritik an den Erziehungsidealen und Wertvorstellungen der gehobenen amerikanischen Mittelschicht gedacht und wird auch von der Kritik überwiegend so gesehen. Beide Familien sind gut situiert - auch Joe Stern ist Arzt - und leben in einem reichen Vorort von New Jersey, wobei die Sterns noch um einiges wohlhabender sind als die Dizinoffs, weil Iris Stern einen hochdotierten Job hat, der mehr als 1 Million Dollar pro Jahr einbringt. Eltern wollen nur das Beste für ihre Kinder, in diesem Fall eine gute Ausbildung möglichst an einer renommierten Universität, die den Weg zu Reichtum und Erfolg ebnet. Die Dizinoffs lieben ihren Sohn, auf den sie lang haben warten müssen, und sie haben schon sehr viel Geld in seine Ausbildung investiert, ja sogar seine künstlerischen Ambitionen verständnisvoll unterstützt. Von ihrem Sohn bekommen sie dafür weder Dankbarkeit noch Respekt. Alec hasst seine Eltern, vor allem seinen Vater, der ihn zwingen will, seinen eigenen Vorstellungen gemäß zu leben. Dafür geht Pete Dizinoff sehr weit. Er beweist wenig Empathie, dafür sehr viel Selbstherrlichkeit und Egoismus. Allerdings ist seine Ablehnung von Laura Stern als Freundin seines Sohnes absolut nachvollziehbar, wenn man am Schluss alle Details der Geschichte kennt. Für mich ist Pete Dizinoff kein abstoßender, verachtenswerter Charakter, sondern ein Vater, der das Beste für seinen Sohn will und dabei grandios scheitert.

Lauren Grodsteins Roman “Die Freundin meines Sohnes” gehört zu einer ganzen Gruppe von Romanen in der amerikanischen Gegenwartsliteratur, die sich mit dem Thema der nicht mehr funktionierenden Familie beschäftigen, z.B. Jonathan Franzens Die Korrekturen, Matthew Sharpes Eine amerikanische Familie (The Sleeping Father), Jeffrey Eugenides´ The Suicide Virgins und Middlesex, Jane Hamiltons Die kurze Geschichte eines Prinzen und viele andere. Auch im Film wurde und wird dieses Thema häufig behandelt. Die meisten Leser kennen “American Beauty” (1999) von Sam Mendes. Auch sein Film “Zeiten des Aufruhrs” (2008) nach dem Roman(!) Revolutionary Road von Richard Yates oder Ang Lees “Eissturm” (1997) nach dem gleichnamigen Roman(!) von Rick Moody gehören dazu.

Lauren Grodsteins Roman schneidet im Vergleich nicht schlecht ab. Ihr prägnantes Porträt von zwei Familien, bei denen nach außen hin alles stimmt, aber hinter der Fassade eben nicht, liest sich trotz einiger Längen - z.B. bei den Erzählungen über die Generation der Großeltern, ihre Krankheiten und ihr Ableben - sehr gut. Allerdings habe ich wie ein anderes vorablesen-Mitglied auch Einwände gegen die stilistischen Unebenheiten der Übersetzung. (Was muss man sich zum Beispiel unter dem Straftatbestand der “widerrechtlichen Tötung” vorstellen? Gibt es auch eine legale?) Aber die sprachlichen Mängel treten gegenüber den Vorzügen des Romans zurück, und es bleibt insgesamt ein positiver Eindruck.