Die Leute, die sie vorübergehen sahen

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lunamonique Avatar

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Drei Jahre ist Sal alt, als sie abrupt aus ihrem behüteten Leben bei ihren Eltern gerissen wird. Ihren Entführer nennt sie ziemlich schnell Daddy und hat ihre richtigen Eltern bald vergessen. Der neue Daddy hat sie lieb, kann es ihr aber nur auf seine verschrobene Art zeigen. Seine Überforderung steigert sich und er überlässt Sal ihrem Schicksal. Eine Odyssee beginnt, deren Schrecken Sal nicht an sich heran lässt. Sie ist eine starke Persönlichkeit, bevorzugt das Leben in Waschsalons, als die Menschen in den Häusern ertragen zu müssen. Die Fürsorge klebt immer an ihren Fersen.

„Die Leute, die sie vorübergehen sahen“ verströmt eine bedrückende Trostlosigkeit des Lebens, die nur wie aus der Ferne betrachtet werden kann. Sal hält Abstand zu den Menschen, auch wenn sie ihr zu Nahe kommen. Es ist ein inneren Abstand, eine unsichtbare Hülle, die sie schützend umgibt. Sie hat nie eine richtige Beziehung zu Menschen gelernt, kennt die Wärme nicht, die sie bedeuten kann. Menschen sind ihr unheimlich, sie verwandeln sich immer in etwas völlig Uninteressantes oder haben von Anfang nichts Reizvolles an sich. Ihr begegnen auf ihrer langen Reise die skurrilsten Typen. Alle haben ihre Art von Lebensweisheit parat. Sal wächst ohne festes Zuhause, ohne Schule und echte Freunde auf. Die Häuser bieten ihr immer nur eine vorübergehende Bleibe mit merkwürdigen Bewohnern und ihren hohen Erwartungen, die niemand erfüllen kann. Die Sal sogar zu ersticken drohen. Meistens geht Sal nach kurzer Zeit im gegenseitigen Einverständnis und setzt ihren Weg fort. Man möchte sie am liebsten schütteln und die Menschen, die ihr diesen Mischmasch aus Nähe und Kälte antun. Die Geschichte wird von einer Ernsthaftigkeit getragen, von einer Aussichtslosigkeit und Schwere. In Sals Leben geht immer nur für ganz kurze Zeit etwas glatt, z.B. als sie im Waschsalon wohnt, vom Inhalt des Automaten lebt, sogar einkaufen kann und einen Schlüssel hat, ohne dass der Besitzer etwas davon merkt. Autor Scott Bradfield macht es dem Leser nicht leicht. Auf den einzigartigen Sprachstil muss man sich konzentrieren. Vieles kann man zwischen den Zeilen lesen, darf dies aber auch nicht verpassen. Man ertappt sich dabei, Passagen immer wieder zu lesen, um das Geheimnis zu lüften. Vieles wird nur angedeutet und nicht ausgesprochen. Hat Sal Missbrauch erlebt? Falsche Anschuldigungen werden aus Sals Antworten und Mimik konstruiert. Humor und Ironie blitzen auf. Den Menschen, ihren Eigenarten, falscher Gier und Egoismus wird der Spiegel vorgehalten. Sal entlarvt ohne große Emotionen. Sie ist mit Elf erwachsener als so manch anderes Kind und wird in verschiedenen Situationen für eine Heilige, ein Wunder gehalten. Die Geschichte ist mysteriös, bewegend und regt zum Nachdenken an. Die Wichtigkeit der Dinge wird in Frage gestellt. Unser Alltag, unsere Gewohnheiten verlieren ihren Zauber. Wer die Geschichte einer normalen Entführung, einen Krimi erwartet ist hier völlig auf dem Holzweg. Für dieses Buch sollte man sich Zeit nehmen. Es kann Einiges ins rechte Licht rücken. Von der Schwere darf man sich nicht mitreißen lassen. „Die Leute, die sie vorübergehen sahen“ ist Gefühlschaos pur. Nichts lässt sich erwarten, die Überraschungen sind nicht immer schön. Trotzdem wird nichts Schreckliches ausgedrückt. Bizarr, merkwürdig, schräg. Menschen können für andere Luft sein, obwohl sie da sind. Nichts Neues, aber etwas auf das man gestoßen werden muss. Eine Dringlichkeit untermalt von 208 ausdrucksstarken Seiten.

Das Cover stimmt mit der hin gekritzelten Sal und diesen, seltsamen Kreisen um sie herum auf die Geschichte ein. Sie wirkt anwesend und doch wieder nicht. Sal erträgt viel und kommt mit sich selbst am besten aus. Sie versteht die Welt, nur die Welt will sie nicht verstehen. Das Buch hat Charme, weil es anders ist. Ein Buch, das nachklingt und man nicht vergisst.