Eine Road-Novelle

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botte05 Avatar

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Rezension: Scott Bradfield, Die Leute, die sie vorübergehen sahen, Residenz Verlag, Roman, gebundene Ausgabe, 208 Seiten, 21,90 €, Erscheinungsdatum: 29.01.2013

„Die dreijährige Sal Jensen wird entführt. Doch das Leben bei ihrem neuen Daddy ist erst der Beginn einer seltsamen, atmosphärisch dichten Reise. Selbständig beginnt Sal, auf der Suche nach einem Zuhause, von Haushalt zu Haushalt zu wandern und begegnet dabei den absonderlichsten Individuen: dem wortkargen Waschsalon-Besitzer, der abgehalfterten Vermieterin, einem altjungen Mann…“ – Zitat Klappentext

Salome Erin Jensen – kurz Sal –, drei Jahre alt, wird von dem Mann, der den Boiler repariert, aus dem Elternhaus entführt. Sal wohnt jetzt bei Daddy und bis auf ein paar Kleinigkeiten vermisst sie nichts aus ihrem bisherigen Leben. Als Daddy in regenreicher Nacht verschwindet, nimmt die Vermieterin Sal in ihre Obhut. Und dies sind nur die ersten zwei Stationen einer Reise, die Sal nun angetreten hat. Sie lernt viele verschiedene Familien kennen, lebt in Waschsalons oder Hausruinen, gelangt in die Obhut der Fürsorge und wird sogar einmal von Daddy wiedergefunden. Nach einer besonders entbehrungsreichen Wanderung wird ihr neues Zuhause quasi zu einem Pilgerort erhoben, woraufhin sie sich wieder in die Obhut der Fürsorge begibt, woraufhin sie zurück in ihr mutmaßlich richtiges Zuhause vermittelt wird, so dass sich der Kreis schließt. Nüchtern, erwachsen, distanziert wird ihre Geschichte erzählt.

Dies ist ein Buch, welches ich wohl nie aus eigenem Antrieb gelesen hätte. Ich bin aber froh, dass ich es lesen durfte. Es hat mich sehr zu kontroversem Nachdenken angeregt; so viel habe ich mich in letzter Zeit wohl mit keinem Buch auseinandergesetzt. Meiner Ansicht nach geht es in diesem Buch primär nicht um Sal, sondern – wie der Titel schon sagt – um die Leute, die Salome vorübergehen sahen. Sal ist für mich eher eine Metapher für Dinge im Allgemeinen, in unser aller Leben. Kritisch und drastisch – eben anhand eines dreijährigen Kindes – zeigt Scott Bradfield dem Leser auf, wie „wir“ mit den Sachen umgehen, die uns umgeben, also Menschen, Umwelt, Besitztümern, Tieren, Ressourcen usw. Es gibt Sachen, die „in“ sind und die „man“ aufgrund dessen „haben muss“; verliert man das Interesse, einfach weg damit. Dieses Buch ist für mich somit eine Gesellschaftsstudie, welches die Oberflächlichkeit aufzeigt, mit der wir zum Teil durch das Leben gehen.

Mir ist dieses Buch sehr nahe gegangen. Erst habe ich so gedacht „naja, eben das schriftliche Pendant zu einem Road-Movie“, aber dann habe ich verinnerlicht, dass es sich ja um ein Kleinkind handelt, etwas zu Behütendes, zu Liebendes, Schutzbedürftiges. Wie kann es sein, dass die Eltern das Kind nicht vermissen, dass das Kind selbst nicht flieht oder um die Rückkehr zu den Eltern bettelt, sondern zunächst duldsam diese ganzen selbstsüchtigen Menschen aushält, bis sie selbstbestimmt wieder auf die Reise geht? Dann habe ich versucht, den Blick von dem Kind weg auf die Umstände zu richten. Und egal, ob man die jeweiligen Familien oder die sozialen Institutionen sieht, muss man feststellen, dass allesamt nur ihr ureigenes Interesse und Wohl im Fokus haben; dieses Kind ist nur Dekoration und „nice to have“ – eine Zeit lang wenigstens… Und das scheint mir durchaus in der heutigen Zeit leider oft gängige Übung zu sein.

Das Buchcover ist in Weiß und Knallpink gehalten, kontrastreich wie die Geschichte. Das Motiv zeigt eine Kinderzeichnung; ein Mädchen in Kreisen, mutmaßlich alters- und kindgerecht bei einem Alter von drei Jahren. Der Leineneinband ist schlicht weiß und unschuldig bis auf das Verlags-Logo und die Betitelung. Meiner Ansicht nach eine passende Einbandgestaltung für dieses Buch. Das Cover der Originalausgabe ist in schwarz/weiß gehalten und stellt eine Häuserskyline im Hintergrund sowie ein Wüstenmotiv im Vordergrund dar. Spiegelt somit Sal’s Weg wider. Ich weiß nicht, inwiefern es üblich ist, in Deutschland ein alternatives Cover zu gestalten. Mir gefällt das Original etwas besser.

Da sich meine Betrachtungen zu diesem Buch zunächst in verschiedene Richtungen orientierten, habe ich versucht, herauszufinden, was Scott Bradfield eigentlich mit seinem Buch aussagen möchte. Ich wollte mit meiner Rezension möglichst nicht völlig im luftleeren Raum landen. Von Bradfield selbst habe ich bislang keine diesbezügliche Aussage gefunden. Allerdings habe ich auf www.bookforum.com eine Buchbeschreibung von Ross Simonini von April 2010 gefunden. Frei übersetzt heißt es hier: „Wie seine Farce „What’s Wrong with America (1994)“, in welcher eine Frau ihren Ehemann tötet damit sie frei ist, um tagsüber Fernsehen zu gucken, ist „The People Who Watched Her Pass By“ nicht interessiert an oberflächlichem Mitleid. Sal auf ihrer Wanderung zu begleiten, ist eine Fahrt direkt in die Zen-freie Zone im Herzen einer klassischen Road Novelle. „Die Zukunft wird immer enger jeden Tag“, schreibt Bradfield. „Und sie nimmt uns mit sich“." Jetzt weiß ich zwar immer noch nicht, was Herr Bradfield mit dem Buch sagen möchte, fühle mich mit meiner Interpretation aber nicht mehr „so ganz daneben“.

Für wen ist dieses Buch geeignet? Grundsätzlich für jede/-n, der/die mal etwas „anderes“ lesen und beim oder nach dem Lesen nachdenken möchte. Ich glaube, dieses Buch eignet sich besonders für eine Diskussion, da die Bandbreite der hier veröffentlichten Rezensionen sehr differenziert ist.