Hit the Road, Sal

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buecherfan.wit Avatar

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In Scott Bradfields neuem Roman “Die Leute, die sie vorübergehen sahen” wird die dreijährige Salome Erin Jensen von dem Mann entführt, der in ihrem Elternhaus den Boiler reparierte. Sie wehrt sich nicht und nennt ihn schon bald “Daddy”. Eine Weile leben sie in einem heruntergekommenen Bungalow in Van Nuys. Eines Tages, nach einem Unwetter, verschwindet Daddy spurlos. Als seine Vermieterin Mrs. Anderson den Bungalow überprüfen will, findet sie Sal allein vor und nimmt sie mit. In der Folge erzählt sie Sal wenig kindgemäße Geschichten aus ihrem Leben, vor allem über ihre Beziehungen zu Männern. Sie hat schon zwei Kinder an die Fürsorge verloren und beabsichtigt, Sal zu behalten, ohne irgendjemand zu informieren. Aber auch bei Mrs. Anderson wird sie nicht auf Dauer bleiben. Für Sal beginnt eine Odyssee, bei der sie sich von immer anderen Erwachsenen mitnehmen lässt, eine Weile mit ihnen lebt und dann wieder weiterzieht, weil die Familien sie abgeben wollen oder weil Sal nicht mehr dort leben möchte. Sie lernt viele, teilweise skurrile Menschen kennen, Außenseiter der Gesellschaft mit mehr oder weniger ausgeprägten psychischen Störungen, lebt in einem Waschsalon, ohne dass der Besitzer von ihrer Existenz weiß, lernt Tim, einen jungen Mann und seine Großmutter kennen, die sich nach einem Schlaganfall nicht mehr verständlich artikulieren kann (“Raaaaaaaaaaaaa”). Zeitweise gerät sie in die Fänge der wenig kompetenten Fürsorge und lebt in einer Einrichtung. Daddy findet sie und nimmt sie wieder auf. Inzwischen hat sie eine kleine “Schwester”, der sie ihre Erfahrungen und Erlebnisse übermittelt, damit jemand sich an sie erinnert und daran, wie sie war. Sie wird vielleicht missbraucht, wahrscheinlich eher nicht, ohne dass der Leser Einzelheiten erfährt. Am eindrucksvollsten ist ihre tagelange Wanderung durch die Wüste - eine Art Selbstfindungstrip mit Grenzerfahrungen -, die in der Hütte des altjungen Mannes endet. Sal wird dort von zahlreichen Pilgern aufgesucht, die von ihr gehört haben und sie wie einen neuen Messias verehren..
Für alle Begegnungen und Orte gibt es keinen präzisen zeitlichen Rahmen, aber der Leser gewinnt den Eindruck, dass Sals Odyssee schon eine ganze Weile gedauert hat, - möglicherweise zwei bis drei Jahre - bevor sie erstmalig ihren richtigen Namen nennt und zu ihrer Familie - zu dem “Mann “und der “Frau” zurückgebracht wird.
Mit Sal als Erzählerfigur hat Bradfield eine sehr originelle Protagonistin geschaffen. Sie berichtet aus ihrer Perspektive, und nur das erfährt und versteht auch der Leser. Dennoch denkt sie meist wie eine Erwachsene, entwickelt komplizierte Gedankengänge über die Welt und das Leben und passt sich so geschickt an, dass sie weitgehend unversehrt überlebt. Sie spricht nicht viel und gibt so wenig wie möglich von sich preis. Die Distanz zwischen Sal und der Welt ist groß und unüberbrückbar. Ihr Bestreben ist es, frei und bindungslos durch die Welt zu ziehen und nicht zurückzublicken. (“Man soll nichts lieben, was nicht von Dauer ist, (…). Nimm einfach nur, was du brauchst. Zieh weiter. Immer wieder neu. Alles, was zählt, ist das Leben, bis es vorbei ist. Und wenn es vorbei ist, geh nicht noch mal hin.” S. 165)
Natürlich ist dies kein realistisches Porträt einer Dreijährigen, genauso wenig wie die Entführungsgeschichte an den Kriterien von Realismus und Wahrscheinlichkeit gemessen werden soll. Darum geht es dem Autor nicht. Für diejenigen, die nach einem tieferen Sinn und einer Botschaft suchen, hat der Autor folgende Antwort parat: “I didn´t have a purpose in writing.“ Er entdeckt eine Figur mit einer ganz eigenen Stimme, erfindet eine Geschichte und gibt dem Ganzen eine Form. Offensichtlich wandelt er mit seinem Roman das typisch amerikanische Genre der Road Novel ab, der literarischen Entsprechung zum Road Movie. Traditionell geht es da um junge männliche Außenseiter, die unterwegs sind wie Sal Paradise und Dean Moriarty in Jack Kerouacs Klassiker “On the Road” (“Unterwegs“) aus dem Jahr 1957. Dieses Genre ist auf europäische Verhältnisse kaum übertragbar. Es fehlt hier nicht nur die endlose Weite des amerikanischen Kontinents. Straße und Schiene haben im historischen Kontext als Symbol der Grenzüberschreitung bei der Kolonialisierung Nordamerikas durch die europäischen Einwanderer einen ganz anderen Stellenwert. Dass Bradfield von dem berühmtesten Roman dieses Genres inspiriert worden ist, legt die Namensgebung nahe: Sal(ome) wie Sal bei Kerouac.
Herausgekommen ist bei diesem Experiment ein ungewöhnlicher, gut lesbarer Roman mit gesellschaftskritischen und kontemplativen Passagen und mit einer sympathischen, weisen und sehr unabhängigen Protagonistin, die den Leser mit ihren Aussagen über Glück, Familie, Häuser und Orte zum Nachdenken bringt.