Alter Mythos, außergewöhnlich erzählt

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
wortwandeln Avatar

Von

Was für ein wilder Strudel!
Der uralte Mythos der tragischen Meerjungfrau, der Sirene oder Undine, diente schon vielen Literaten als Erzählstoff. Am bekanntesten ist wohl Andersens berühmte Märchenadaption, die der Geschichte, die Monique Roffey gleichwohl so kräftig wie experimentell gegen den Strich bürstet, am nächsten kommt.
Obwohl die vor Jahrtausenden ins Meer verbannte Aycaya nicht aus Liebe zu einem Prinzen an Land geht und dabei ihre Stimme verliert, sondern von amerikanischen Touristen brutal der karibischen See entrissen und entwürdigend verhökert werden soll, ist dies eine Liebesgeschichte. Denn der einfache Fischer David, der schon oft für das schöne Wesen draußen auf dem Meer gesungen hat, rettet sie und bringt sie in seine Hütte. Dort verwandelt sich Aycaya unter Qualen in eine Frau zurück, findet nach und nach die verlorene Sprache wieder und erlangt ihre Selbstbestimmung zurück.
Dieser Roman steckt voller Bedeutung und Symbolik. Je tiefer man sich in diesen märchenhaften und doch modernen Erzählfluss sinken lässt, desto mehr wird einem thematisch bewusst. Geschickt verbindet die Autorin die magisch-realistischen Legenden der Einheimischen, Kolonialgeschichte und zeitlose Themen wie Feminismus, Freundschaft, Liebe, Identität.
Nicht nur literarische Genres und Themen sind rasant gemixt, Monique Roffey experimentiert auch mit den stilistischen Mitteln, insbesondere mit der Sprache ihrer Protagonist*innen. Aycaya spricht in poetischen versähnlichen Bildern, David in schlichten, verschliffenen dialektgefärbten Sätzen. Für die erfahrene Übersetzerin Gesine Schröder, die ich dankbar vor allem mit den Werken von Louise Erdrich verbinde, eine Herausforderung, die sie ebenso originell gemeistert hat. Denn auch wenn sich grammatisch falsche Strukturen zumindest für mich recht gewöhnungsbedürftig lesen, erfüllen sie in jedem Fall den Zweck der Authentizität und das Akzeptieren anderer Stimmen. Sehr aufschlussreich war dazu auch Gesine Schröders Nachwort, in dem sie die Arbeit am Buch beschreibt.
Das Figurenensemble, zu dem noch andere interessante Charaktere gehören, habe ich als für die Geschichte gut ausgearbeitet empfunden, bin aber insgesamt das Gefühl von Distanz nicht losgeworden. Vielleicht liegt es an der symbolischen Aufladung oder eben an der Sprache, dass mir die Charaktere bis zum Ende wie Märchenfiguren vorkamen.
Insgesamt eine große Empfehlung für eine außergewöhnlich originelle Geschichte.