dicht gepacktes Weisheits-Konzentrat

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wolfgangb Avatar

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Jerusalem im Jahr 1099: Vor den Toren lagert das Heer der Kreuzritter, das im Morgengrauen angreifen wird. In der eingekesselten Stadt sammeln sich Juden, Christen und Moslems um einen namentlich nicht genannten Kopten, der geduldig ihre Fragen beantwortet und ihre Sorgen zu zerstreuen sucht.

So weit also zur Szenerie, die Paolo Coelho in seinem aktuellen Werk als Ersatz einer Rahmenhandlung dient. Die vom Verlag gewählte Einordnung in das Roman-Genre ist irreführend, da es sich bei den "Schriften von Accra" im Gegensatz zu anderen Werken des Autors nicht um eine durchgängige Geschichte, sondern vielmehr eine Sammlung predigtartiger Weisheiten handelt. Die Bürger der Stadt fungieren jeweils zu Beginn eines der wenige Seiten umfassenden Abschnitte als Stichwortgeber, worauf die Antwort des Vortragenden folgt. Somit erinnert der Aufbau an die Dialoge, in denen die Philosophie Sokrates' der Nachwelt überliefert ist. Wohlwollende Leser könnten diesen auch als stilistische Hommage an Khalil Gibrans "Der Prophet" interpretieren ...

Das Geleitwort verwurzelt den Text in den Apokryphen, und auch der Verweis auf das historische Ereignis und die Beteuerung Coelhos, die Texte von einem Archäologen zugespielt bekommen zu haben, tragen dazu bei, den Inhalt des Buches zu verklären. Ob es sich bei den weisen Worten tatsächlich um Überlieferungen handelt oder Coelho seine eigenen in einen tausend Jahre alten Talar kleidet, ist für den Leser nur schwer nachvollziehbar. Indem der Autor sich jedoch so von der Autorenschaft lossagt, entzieht er sich geschickt sachlicher Kritik.

In der Tat erweist es sich als schwierig, sich unvoreingenommen mit Paolo Coelho auseinanderzusetzen. Es ist ebenso tententiell, ihn als Propheten zu preisen, wie ihn als Scharlatan zu verdammen. Die Lektüre seiner Werke setzt eine bestimmte Gemütsverfassung voraus. Vielen erscheint er als sinnlos salbungsvoll, wohingegen Antwortsuchende bei ihm fündig werden. In unserer von Reizüberflutung und Burnout gezeichneten Zeit scheinen jene, die sich von der Abstraktion der Welt überfordert fühlen, auch als sein Zielpublikum zu etablieren.

Der weise Kopte spricht vom Leben als ewigem Kreislauf. Er lehrt den Umgang mit Niederlagen, mit dem Gefühl der Ablehnung. Er anerkennt die Daseinsberechtigung jeden Wesens, ermutigt, die eigene Schönheit zu suchen, bedingungslos zu lieben. Seine Worte verstehen sich als ein Plädoyer für das Leben in seiner Farbenpracht voller Höhen und Tiefen, Siegen und Niederlagen. Er erhebt seine Stimme gegen das Grau der Beliebigkeit, denn nur, wer jeden Tag gestaltet, als sei es sein allererster, wird einen vielfältigen Schatz an Erfahrungen sammeln.

"Die Schriften von Accra" kann man bequem an einem Abend lesen. Sollte man aber nicht. Vielmehr empfiehlt es sich, die zahlreichen Perlen, die zwischen altklugem Gerede verborgen liegen, in kleinen Lektüreeinheiten zu entdecken. Unabhängig davon, wie man zum Autor stehen mag, das Buch bringt zum Lächeln, ermutigt dazu, das nie Gewagte auszuprobieren.