Puzzlestücke

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Eigentlich mag ich vor allem Romane, die chronologisch erzählt sind. Eigentlich mag ich vor allem amerikanische Krimis. Eigentlich mag ich sogar am ehesten Thriller. All das trifft auf Petra Hammersfahrs neuesten Roman nicht zu. Doch sie hat einige andere Zutaten, die mir schon bei der Leseprobe positiv aufgefallen sind: Plastische Figuren, die ich gerne begleite, einen Täter, der trotzdem sympathisch wirkt und einen Erzählstil, der wirklich „süffig“ zu lesen ist. Ob das auch für „Die Schuldlosen“ insgesamt gilt, ob da das positive Urteil überwiegt, dazu gibt es nun wie üblich Stück für Stück mehr.

 

 

Inhaltsverzeichnis:

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1. Die Autorin: Petra Hammesfahr

2. Ort und Zeit der Handlung

3. Hauptfiguren

\*\*\*a) Alexander Junggeburt

\*\*\*b) Silvie

\*\*\*c) Lothar

\*\*\*d) Heike

\*\*\*e) Saskia

4. Die Geschichte

5. Themen

\*\*\*a) Kind verlieren

\*\*\*b) Täter

\*\*\*c) Schuld

6. Erzählweise

7. Zielgruppe

8. Daten zum Buch

9. Pro & Contra

10. Fazit

 

 

1. Die Autorin: Petra Hammesfahr

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Der Name Petra Hammesfahr sagte mir etwas – bevor ich „Die Schuldlosen“ gelesen habe. Es war mein erster Roman, und so genau wusste ich über die Autorin nicht Bescheid. Erst im Nachhinein habe ich festgestellt, dass sie diejenige ist, die ein Buch mit „Merkel“ im Titel geschrieben hat. Und das war nicht ihr einziger Romanerfolg: Insgesamt hat die Autorin, die in der Nähe von Köln lebt, schon 35 Bücher veröffentlicht, gerade in den Anfangsjahren gab es oft drei oder vier neue Werke.

Petra Hammesfahr ist Jahrgang 1951, geboren wurde sie in Titz. Mit 13 machte sie zunächst schon eine Ausbildung als Einzelhandelskauffrau. Ihr Durchbruch als Schriftstellerin kam wesentlich später – und zwar durch den Playboy. Dort veröffentlichte Hammesfahr 1989 eine Kurzgeschichte. In der Folgezeit verfasste sie außerdem mehrere Drehbücher.

Hammesfahr ist in zweiter Ehe verheiratet, sie hat drei Kinder.

 

 

2. Ort und Zeit der Handlung

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Ich hatte es ja eingangs erwähnt: Normalerweise mag ich am liebsten Geschichten, die grade heraus von Anfang bis Ende erzählt sind, chronologisch, ohne große Zeitsprünge. Doch genau die Zeitsprünge gibt es in „Die Schuldlosen“. Mal ist man praktisch in der Gegenwart, mal nur ein paar Jahre (sechs Jahre) zurück, mal in den 50er Jahren, mal ein paar Jahrzehnte später. Petra Hammesfahr spielt mit Bruchstücken, mit Puzzlesteinen. Doch genau das hat in diesem Fall seinen Reiz. Denn die einzelnen Fragmente, die anfangs noch rätselhaft wirken, fügen sich am Ende zu einem klaren Bild zusammen, einem Bild, das man so anfangs nicht erwartet hätte. Die Tatsache, dass man als Leser auf diese Weise nach und nach der Wahrheit näher kommt, ist reizvoll und sicher einer der großen Pluspunkte dieses Romans, der im übrigen in Deutschland spielt. Den Ort, Grevingen, scheint es allerdings nicht wirklich zu geben. Er soll sich in der Realität der Geschichte aber offenbar in der Nähe von Köln befinden.

 

 

3. Die Hauptfiguren

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 \*\*\*a) Alexander Junggeburt

Die Figur Alexander (meist Alex genannt) Junggeburt ist eine ungewöhnliche Hauptfigur für einen Krimi – aber zugleich eine sehr gute. Alex kommt aus dem Knast, dort saß er sechs Jahre wegen Mordes an einer jungen Frau aus der Nachbarschaft. Kann man so einen Mann, so einen Charakter mögen? Nein? Doch! Man kann! Frisch aus der Haft entlassen, kauft Alex zunächst die Dinge ein, die er für ein Leben in Freiheit braucht: Lebensmittel, Kleidung, ein Mobiltelefon. Die Szenen mit ihm sind nicht direkt ungewöhnlich. Doch Autorin Hammesfahr schafft es, Alex schon früh sympathische Züge zu geben.

Nach und nach erfährt man mehr von ihm: Er stammt aus reichem Elternhaus, hat die Villa seiner Familie geerbt, erhält aus dem Familienunternehmen, einer Brauerei, seinen Unterhalt. Als Kind war er für seine Mutter Ersatz für die früh verstorbene Schwester, in der Schule Außenseiter, andererseits aber auch Frauenschwarm und Frauenheld. Doch letztlich landete er bei der eher unscheinbaren Bäckerstochter Heike, war liebevoller Vater seiner Tochter Saskia.

 

\*\*\*b) Silvie

Silvies Familienverhältnisse sind kompliziert: Silvies Großmutter Franziska hatte zunächst eine Tochter namens Marie. Die starb als Kind, Franziska bekam eine zweite Tochter, die auch Marie getauft und Ria genannt wurde. Aus Trauer um die erste Marie konnte Franziska Ria nie richtig Aufmerksamkeit und Liebe schenken. Und auch Ria wurde keine gute Mutter. Sie gab ihre kleine Tochter Silvie als Baby bei Franziska ab und verschwand. Silvie wuchs also bei den Großeltern auf. Sie macht einen lieben Eindruck, steht zu den Menschen, die ihr wichtig sind, scheint gerecht. Vielleicht wirkt sie insgesamt sogar einen Hauch zu positiv.

Als Kind lernt Silvie Alex kennen, als junge Frau verliebt sie sich in ihn, den Frauenhelden.

 

\*\*\*c) Lothar

Lothar ist von Kindestagen an Alex bester Freund. Allerdings ist er derjenige, der immer auf dem zweiten Platz steht, vor allem bei den Mädchen. Während die alle Alex hinter laufen, kann sich Lothar nur an Alex abgelegte Freundinnen machen. Genau das tut er auch bei Silvie.

 

\*\*\*d) Heike

Heike ist Bäckerstochter, ist schon als Kind dicklich, als erwachsene Frau nicht furchtbar attraktiv, sie ist in mancher Hinsicht eher eine Außenseiterin. Trotzdem gewinnt sie den umschwärmten Alex für sich. Er unterstützt sie in ihrem Kiosk, er schmeißt ihren Haushalt, kümmert sich um die gemeinsame Tochter Saskia. Als Alex beschuldigt wird, eine Nachbarin ermordet zu haben, steht Heike nicht an seiner Seite. Als er ins Gefängnis kommt, gibt sie Saskia bei ihrem Bruder und dessen Familie ab.

 

\*\*\*e) Saskia

Saskia ist – wie schon erwähnt - die gemeinsame Tochter von Alex und Heike. Als Leser lernt man sie zunächst als einerseits aufgewecktes, andererseits naives Kind kennen. Denn Saskia glaubt, dass Kinder aus Retorten kommen.

 

 

4. Die Geschichte

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Da das Hin- und Her der Puzzlestücke, die Autorin Petra Hammesfahr den Lesern präsentiert, in einer Zusammenfassung etwas schwer verständlich ist, versuche ich es etwas chronologischer.

Die aus reichem Hause stammende Helene Junggeburth und ihre Haus-Angestellte Franziska haben eins gemeinsam: Beide Frauen verlieren eine Tochter. In beiden Fällen werden diese Verluste zu einer wichtigen Weichenstellung für die Familie insgesamt, denn beide kommen nur schwer über die Tode ihrer Töchter hinweg. Helene wird depressiv, ist nach dem Verlust ihrer Alexandra kaum noch zu etwas zu gebrauchen. Als schließlich keiner mehr daran glaubt, dass sie überhaupt noch am Leben teil nimmt, stellt sich eine Unterleibsschwellung als neue Schwangerschaft heraus. Ein kleiner Junge kommt zur Welt.  Nach Alexandra wird er Alexander genannt. Und Helene macht einen schweren Fehler: Sie kleidet ihn als Mädchen, macht im Zöpfe, behandelt ihn als ihre Tochter. Erst als Alex in die Schule kommt, sorgt seine deutlich ältere Schwägerin dafür, dass er auch Jungenkleidung bekommt.

Franziska dagegen verliert ihre Marie, ihre Tochter, noch früher und ist schon kurz darauf erneut schwanger. Sie kann das „neue“ Kind nicht lieben. Ihr Mann nennt die zweite Tochter auch Marie, sie wird aber nur Ria gerufen. Schon als Teenager verlässt Ria ihr Elternhaus früh und oft, geht schließlich mit ihrem Mann, einem Soldaten, ins Ausland. Als Rias Tochter Silvie zur Welt kommt, bringt Ria das Kind zu ihrer Mutter Franziska – und verschwindet. Silvie wächst bei Franziska auf.

Als junge Frau verliebt sie sich in Alexander. Doch der hat Chancen bei allen Frauen, auch bei Janice, einer Nachbarin, die schon mit vielen Männern im Bett war. Eines Nachts wird Janice ertränkt, Alex wird als Täter verurteilt. An den Mord kann er sich nicht mehr erinnern. Seine Klamotten waren aber nass, sein Freund Lothar soll ihn aus dem Wasser geholt haben.

Nach sechs Jahren im Gefängnis kehrt Alex in seinen Heimatort zurück, in die Villa seiner inzwischen verstorbenen Eltern. Er spricht Saskia an, ein Mädchen, das bei Heikes Bruder lebt. Nach und nach erfährt man als Leser: Heike und Alex waren vor der Tat ein Paar, Saskia ist ihre gemeinsame Tochter. Silvie ist inzwischen mit Lothar zusammen, beide haben einen Sohn, Silvie ist zum zweiten Mal schwanger.

Ich könnte jetzt leicht weiter ins Detail der Geschichte eintauchen. Doch dann würde ich wahrscheinlich zu viel von den verschiedenen Bruchstücken, aus denen die Geschichte besteht, verraten. Doch die sollten sich alle, die bislang neugierig geworden sind, selber erlesen.

 

 

5. Themen

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\*\*\*a) Kind verlieren

Fast jeder hat die „Binsenweißheit“ schon einmal gehört: Das schlimmste, was einem geschehen kann, ist ein Kind zu verlieren. Und fast keiner kann diesen Satz wirklich nachempfinden – da die meisten von uns glücklicherweise nie in dieser Situation waren und hoffentlich nie in diese Situation kommen werden.

Wie schon erwähnt: Im Roman werden gleich zwei Frauen mit diesem Verlust konfrontiert. Beide Frauen, Helene Junggeburt und auch Franziska erhalten durch den Tod ihrer Töchter einen ganz gewaltigen Knacks. Beide sind daraufhin nicht in der Lage, ihre „neuen“ Kinder genau so zu lieben wie die verstorbenen. Und in beiden Fällen machen die Frauen riesige Fehler im Umgang mit diesen neuen Kindern, die dadurch ebenfalls einen Knacks bekommen: Alexander hat keine normale Kindheit, da er in die Rolle seiner Schwester, in die Rolle eines Mädchens, gedrängt wird, Ria erhält keine Liebe und ist auch selber als Mutter später unfähig, ihr Kind normal zu lieben. Auch abgesehen davon, verläuft das Leben der beiden Mütter nach dem und durch den Verlust ihrer Mädchen ganz unterschiedlich: Helene zerbricht, zieht sich in ihre eigene Welt zurück. Franziska dagegen wird später stark, macht bei ihrer Enkeltochter Silvie den Fehler, den sie mit ihrer Tochter Ria (Silvies Mutter) gemacht hat, wieder gut.

Genau das, was ich hier in Kürze geschildert habe, ist ein weiterer großer Pluspunkt von „Die Schuldlosen“: Autorin Petra Hammesfahr zeigt die Facetten des Themas „Kind verlieren“ sehr eindrücklich auf.

 

\*\*\*b) Täter

Eine weitere Stärke der Geschichte ist die Tatsache, dass Hammesfahr von der üblichen Täter-Opfer Schwarz-Weiß-Malerei abweicht. Alexander Junggeburt, der wegen Mordes verurteilt wurde, ist bei ihr eine Figur mit sympathischen Zügen, eine Figur, an deren Seite ich gerne war, weil er eben kein kaltblütiger Killer ist sondern durchaus eine facettenreiche Persönlichkeit ist. Man mächte wissen, warum es zu dieser Tat kam und war er genau und wirklich gemacht hat.

 

\*\*\*c) Schuld

Das Thema Schuld wird in diesem Roman von verschiedenen Seiten beleuchtet. Da ist einerseits die Schuld im Mordfall. Diese Schuld scheint durch den Prozess, durch Alex Verurteilung, geklärt. Doch ist sie das wirklich?

Vielleicht ist es auch das Zusammenwirken von Schuld und Schicksal, das die Handlung interessant macht. Denn letztlich ist es das Schicksal, das hier einige Hebel in Bewegung setzt: Der Tod von Alexandra Junggeburt und von Marie ist Schicksal. Weder Helene Junggeburt noch Franziska haben eine Schuld am Tod ihrer Kinder. Trotzdem werden beide auf ihre Weise schuldig, da sie nach dem Verlust ihrer Töchter Fehler bei den „neuen Kindern“ machen. Diese „neuen Kinder“, Alexander Junggeburt und Ria, sind auch einerseits schuldlos daran, dass ihre Mütter ihnen nicht genügend Liebe geschenkt haben. Andererseits haben beide ihre eigenen Fehler gemacht, Alex als Frauenheld, Ria als „Rabenmutter“, die ihre eigene Tochter quasi kommentarlos bei ihren Eltern zurück lässt.

 

 

6. Erzählweise

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Einen wesentlichen Punkt der Erzählweise dieser Geschichte habe ich ja schon erwähnt: Autorin Petra Hammesfahr arbeitet mit zahlreichen Zeitsprüngen. Sie setzt dem Leser Versatzstücke vor, aus denen sich erst am Ende ein ganzes, ein klares Bild ergibt. Hammesfahr schafft es aber, diese Versatzstücke interessant genug zu gestalten, um den Leser bei der Stange zu halten.

 

 

7. Zielgruppe

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Die Zielgruppe für „Die Schuldlosen“ sind sicher Krimifans, Leser, die gut gemachte Geschichten mögen. „Die Schuldlosen“ sind nicht blutrünstig geschrieben (anders als viele Krimis von Karin Slaughter oder Tess Gerritsen). Die Spannung speist sich viel mehr aus den bereits erwähnten Bruchstücken, die Petra Hammesfahr dem Leser nach und nach vorsitzt und aus der sich das große Ganze am Ende zusammenfügen lässt.

 

 

8. Daten zum Buch

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Petra Hammesfahr – Die Schuldlose

Verlag: Wunderlich (9. März 2012)

448 Seiten

ISBN-10: 3805250398

ISBN-13: 978-3805250399

Die gebundene Ausgabe kostet 19,95 Euro.

 

 

9. Pro & Contra

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Pro

- sehr gute Figuren (besonders Alex)

- spannend in Versatzstücken erzählt

- sehr gute Themen (Verlust von Kindern, Schuld)

- eine andere Art von Krimi

 

Contra

- nix

 

 

10. Fazit

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Petra Hammesfahr hat mich mit „Die Schuldlosen“ auf jeden Fall begeistert. Der übergeordnete Grund ist wahrscheinlich: Dieser Roman ist eine andere Art von Krimi. Viele Dinge, die sie hier (be-)schreibt, sind ungewöhnlich und grade deswegen reizvoll. Da ist zum einen die zentrale Hauptfigur, Alex. Der wurde wegen Mordes verurteilt, saß sechs Jahre im Gefängnis. An sich hegen die meisten Menschen mit einem verurteilten Mörder keine größeren Sympathien. Alex wird den Lesern dieser Geschichte dennoch sympathisch. Das liegt auch an der Erzählweise, die ein weiterer ungewohnter und damit auch ein weiterer Pluspunkt des  Romans ist: Hammesfahr arbeitet mit Bruchstücken, springt in die weit entfernte und in die jüngere Vergangenheit. Zunächst kommen dadurch beim Leser zwar nur Ahnungen auf, nach und nach fügen sich die Einzelteile aber zu einem großen Gesamtbild zusammen. Zu diesem Gesamtbild gehören dann auch die ebenfalls spannenden Themen: Verlust eines Kindes beispielsweise, Liebe zum Kind, die Frage von Schuld. Auch diese Themen werden von Petra Hammesfahr facettenreich in die Geschichte eingebaut.

Ich kann „Die Schuldlosen“ nur empfehlen und werde sicher bald weitere Hammesfahr-Romane verschlingen.