Ihr lebt in eurer Geschichte, wir in unserer. [3,5 Sterne]

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jiskett Avatar

Von

383 Seiten
Originaltitel: A God In Every Stone (2014)

Buchrücken:
»Kamila Shamsie verfügt über außergewöhnliche erzählerische Kraft.« (Salman Rushdie)
Eine junge Engländerin reist 1914 zu Ausgrabungen nach Labraunda und begegnet dort dem Archäologen Tahsin Bey. Vor dem Hintergrund antiker Ausgrabungen und den Wirren des Ersten Weltkriegs entfaltet sich eine vergangene Zeit, eine exotische Welt und vor allem die Geschichte einer großen Liebe.

Die Autorin (dem Buch entnommen):
Kamila Shamsie wurde 1973 in Karatschi, Pakistan, geboren und lebt in London und Karatschi. Im Berlin Verlag erschienen bisher "Kartographie" (2004), "Verbrannte Verse"(2005), "Salz und Safran" (2006) und "Verglühte Schatten" (2009). Für ihr literarisches Werk erhielt Kamila Shamsie zahlreiche Preise, u.a. wurde sie 2013 als »Granta Best of Young British Novelists« ausgezeichnet.

Aufbau:
Anmerkung der Verfasserin
Erstes Buch (1914-16):
- Für König und Vaterland
- Stadt der Männer, Stadt der Blumen
Zweites Buch: (1928-1930):
- Herodot des zwanzigsten Jahrhunderts
- Die einzige Frage
- Auf der Straße der Geschichtenerzähler
Schlussbemerkung
Danksagung der Autorin

Meinung:
„Ihr lebt in eurer Geschichte, wir in unserer.“ (S. 253)

Zunächst muss angemerkt werden, dass die Geschichte nicht war, was ich aufgrund der Inhaltsangabe auf dem Buchrücken erwartet hätte. Besonders ärgert mich die falsche Information, dass Vivian Tahsin Bey erst bei der Ausgrabung in Labraunda kennen lernen würde - er ein Freund ihres Vaters und kannte sie, seit sie ein kleines Kind war, was auch so im Klappentext steht. Es ist nur eine Kleinigkeit, die keine wirkliche Konsequenz für die Handlung hat, aber ich frage mich wirklich, wie solche Fehler in der Inhaltsangabe passieren können.
Auch die angekündigte Geschichte einer "großen Liebe" gibt es nicht. Vivian und Tahsin entwickeln zwar Gefühle füreinander, werden aber durch den Krieg getrennt, bevor sie diese ausleben könnten. Ich will nicht zu viel verraten, aber wer eine romantische Liebesgeschichte vor einem historischen, exotischen Hintergrund erwartet, wäre von diesem Buch sehr enttäuscht. Sie spielt nur am Rande eine Rolle.

Viel wichtiger sind die historischen Ereignisse. Der erste Teil des Buches beschäftigt sich mit dem Ersten Weltkrieg. Der Fokus liegt hierbei auf der Indischen Armee und ihrem Beitrag zum Kampf Großbritanniens. Dies fand ich sehr interessant, da ich bisher nicht viel über die Teilnahme nicht-europäischer Länder am Krieg wusste und ich somit eine „andere“ Seite des ersten Weltkrieges kennenlernen konnte.
Shamsie schafft es sehr gut, den Schrecken des Krieges nahezubringen. Vivian, die Protagonistin, arbeitet eine zeitlang als freiwillige Schwesternhelferin und sieht viele Menschen ihren Verletzungen erliegen, während Quayyum Gul (dessen Geschichte auch einen großen Teil der Handlung einnimmt) selbst verwundet wird. Auch nachdem die beiden nach Peschawar reisen und somit den Kriegshandlungen entkommen, spürt man, dass der Krieg noch nicht vorbei ist, sondern sie immer noch verfolgt, nicht loslässt.

Die beiden Hauptcharaktere sind sehr unterschiedlich und sich dabei doch ähnlich. Vivian ist zu Beginn unglaublich naiv, sehnt sie sich nach der Anerkennung ihres Vaters und will ihrem Vaterland im Krieg helfen. Quayyum ist stur, seinem Vaterland treu ergeben und davon überzeugt, dass Großbritannien etwas ist, von dem sein Land sich befreien sollte. Beide verändern sich durch den Krieg, machen ihre Fehler und haben eindeutige charakterliche Schwächen, was sie als Figuren glaubwürdig macht.
Außerdem haben beide ihre Vorurteile, von denen sie sehr fest überzeugt sind. Dies macht die Geschichte interessant, da die Autorin es so schafft, die schwierige Situation des Ersten Weltkrieges und des danach beginnenden Unabhängigkeitskampfes des heutigen Pakistans aus der Sichtweise beider Parteien darzustellen. Sie zeigt, wie beide Seiten glauben, das richtige zu tun und wie beide Seiten sich ein festes Bild ihrer Gegner machen, wovon sie sich nur schwer abbringen lassen. Beide Seiten werden berücksichtigt und beide Seiten handeln nicht immer richtig. Das hat mir sehr gut gefallen, da Shamsie somit eine typische Schwarz-/Weiß-Malerei vermieden hat.

Insgesamt fand ich "Die Straße der Geschichtenerzähler" sehr gut. Es war abwechslungsreich, gut geschrieben und faszinierend. Besonders interessant waren für mich hierbei die historischen Fakten, die die Autorin eingearbeitet hat, und ihre Ausarbeitung der Krisensituation.
Was mir nicht gefallen hat, war das Ende, genauer gesagt die letzten fünfzig Seiten. Ich hatte das Gefühl, dass sich eigentlich nichts aufgelöst hat, und fand alles ein wenig verwirrend, vor allem durch den Wechsel der Perspektive. Deshalb habe ich von der Endwertung einen halben Stern abgezogen.
Außerdem hat mich gestört, wie Dialoge dargestellt wurden. Sie wurden nicht mit Anführungszeichen markiert; die meiste Zeit wurde zwar klar, wann die Gespräche beginnen, weil sie mit Strichen vor der Zeile gekennzeichnet wurden, aber manchmal wurden auch mitten im Absatz ein paar Worte gesagt, die nicht hervorgehoben wurden. Dies hat meinen Lesefluss ein paar Mal unterbrochen.
Abgesehen von dieser Kritik kann ich das Buch aber weiterempfehlen.