Kleiner, feiner französischer Roman

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Der französische Autor Jean-Philippe Blondel, Jahrgang 1964, schreibt seit 2003 sehr schmale, ruhige und sehr persönliche Romane, von denen mittlerweile sechs auf Deutsch erschienen sind. Es sind Texte, die man gemeinhin als „typisch französisch“ bezeichnet. Dies und vielleicht auch die Tatsache, dass sie hier bei uns in verschiedenen Verlagen veröffentlicht wurden, sind möglicherweise der Grund dafür, dass sie eher wenig beachtet geblieben sind. Neuere Französische Literatur wird in Deutschland in jüngerer Zeit gerne als innovativ, frisch, provokant, politisch wahrgenommen. All das sind Blondels Romane nicht.
Blondel erzählt gerne leise Geschichten, von jungen und mittelalten Männern in ganz bestimmten, oft nur wenige Stunden oder Tage umfassenden Situationen. Das ist mal der Roadtrip mit Freunden an die amerikanische Pazifikküste um eine persönliche Tragödie zu überwinden („Zweiundzwanzig“), mal das unverhoffte Zusammentreffen zweier einstiger Liebender in einem Vorortzug ( „6 Uhr 41“) oder ein Besuch bei den Eltern („This is not a lovesong“). Von diesen Situationen ausgehend schweifen die Gedanken des Erzählers in die Vergangenheit.
So ist es auch in „Ein Winter in Paris“. Hier ist es der Brief eines Mannes, der für kurze Zeit im Leben des Erzählers Victor eine bedeutende Rolle gespielt hat, der eine Erinnerungswelle auslöst. Patrick Lestaing ist der Vater eines Jungen, mit dem sich Victor während der Vorbereitungskurse zum Lehrerexamen angefreundet hatte. Ein Jahr unter ihm, aber genauso einsam in den Reihen der „höheren Söhne und Töchter“ an diesem renommierten Pariser Lycée, und genauso unter dem enormen Leistungsdruck hier, besonders hinsichtlich des Bestehens des berüchtigten „Concours“, der Aufnahmeprüfung zur Grande ècole, leidend, fühlte Victor zum ersten Mal eine gewisse Nähe zu einem der Mitschüler. Doch eines Morgens musste er den Selbstmord Mathieus miterleben. Dieser stürzte sich während des Unterrichts im Treppenhaus der Schule zu Tode.
Neben seinem eigenen Schock und Kummer trug Victor in der Folgezeit auch noch eine ganze Menge der Trauer von Mathieus Vater, der sich ihm annäherte. Dies und die widerstreitenden Gefühle, die er erlebte, als er merkte, dass er plötzlich für seine Mitschüler interessant geworden war, „der Freund des Selbstmörders“, sogar den beliebtesten Studenten als Freund gewann, verwirrten den jungen Mann. Dazu kam das angespannte Verhältnis zu den eigenen Eltern und dem Bruder in der Provinz, von denen er sich nie richtig anerkannt gefühlt hatte.
Nun, dreißig Jahre später, Victor ist mittlerweile Schriftsteller, ergreift er vielleicht die Gelegenheit, sein Verhalten von damals geradezurücken.
Wie stets benötigt Jean-Philippe Blondel keine zweihundert Seiten, um diese Geschichte zu erzählen. Und wie immer ist er sehr nah an Autobiografischem. Sein Erzählen ist knapp, sensibel, zart und auf den ersten Blick sehr leicht daherkommend. Immer steckt dahinter aber eine tiefe Melancholie, immer werden auch die ganz großen Fragen gestellt.
Was ich in einer französischen Kritik zu „Zweiundzwanzig“ einmal las gilt eigentlich für alle Bücher Blondels, auch wenn sie zeitweise durchaus auch heiter sind:
"Es ist wie bei einer Wunde: Am Anfang spürt man nichts. Aber später, wenn man dieses imponierende Buch geschlossen hat, dann leidet man."
Es ist allerdings ein angenehmes Leiden, eines, dass bewirkt, dass die Lektüre dieser schmalen Romane nicht so schnell in Vergessenheit gerät.