Detailreiches Porträt einer Stadt in Aufruhr

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New York, Anfang der 1960er-Jahre: Ray Carney versucht, sich mit ehrbaren Mitteln eine bürgerliche Existenz aufzubauen und im Leben voranzukommen. Sein Vater war Kleinkrimineller, doch Ray hat in eine angesehene Familie eingeheiratet – zum Missfallen der Schwiegereltern – und verkauft Möbel auf der 125th Straße in Harlem. Doch das ehrliche Leben kann ihn nur bis zu einem gewissen Punkt bringen – als Schwarzer werden Carney immer wieder die Grenzen aufgezeigt. Und so lässt er sich von seinem Cousin Freddie immer wieder dazu bringen, bei krummen Geschäften mitzumachen. So auch nach dem Raubüberfall auf das Hotel Theresa, als Freddie ihm Juwelen bringt, die er weiterverkaufen soll. Nur hat ausgerechnet auch ein Gangsterboss es auf die Juwelen abgesehen…

Damit geht der Ärger für Carney erst los. In drei Episoden, die im Jahr 1959, 1961 und 1964 spielen, erzählt Colson Whitehead, der mit seinen letzten beiden Romanen jeweils den Pulitzer-Preis gewann, wie Ray Carney sich immer tiefer in der New Yorker Unterwelt verstrickt, die mit Gangstern, Polizisten und reichen Familiendynastien bevölkert ist. Es scheint, dass man als anständiger Mann keine Karriere machen kann. Dabei bleibt die Hauptfigur Carney bis zum Schluss ambivalent: Lässt sich Carney anfangs nur widerwillig auf das illegale Leben ein, nimmt er in der zweiten Episode doch eine aktivere Rolle ein, nur um am Ende aufgezeigt zu bekommen, dass es in dieser Stadt, in der er lebt, immer noch einen größeren Hai im Becken gibt. Dass man auch nach der Lektüre des Romans kein eindeutiges moralisches Urteil über Carney sprechen mag, macht seine Qualität aus. Das Gleiche lässt sich nicht über jede der Nebenfiguren sagen. Mit manchen Figuren (insbesondere Pepper, ein Krimineller, der schon mit Carneys Vater zu tun hatte und der auf Ray trifft) hätte man gerne noch mehr Zeit verbracht, andere hingegen (darunter Carneys Frau Elizabeth und die meisten der Gangsterbosse mit schillerndem Namen) sind dagegen eher mit breitem Pinsel gezeichnet und bleiben blass.

Ohnehin ist der eigentliche (nicht so heimliche) Held des Buches Harlem selbst. Whitehead lässt Zeit und Schauplatz seiner Handlung durch zahlreiche Anspielungen, Namen, Beschreibungen und Referenzen auferstehen. Mit überborderndem Detailreichtum versetzt er einen in das Harlem der 1960er Jahre zurück, das mit seinen strukturellen Machtverhältnissen, dem Rassismus, Polizeigewalt und Unruhen schmerzlich aufzeigt, wie wenig sich seitdem geändert hat. Whitehead bereitet dieser Detailreichtum sichtlich Freude, von Möbelmarken bis zur Popkultur der damaligen Zeit, er nimmt sich Zeit, um ein lebhaftes Porträt dieser Stadt in Bewegung zu erschaffen. Mitunter leidet allerdings das ohnehin gemächliche Erzähltempo an zu vielen Einschüben und Rückblenden. Auch der Erzählstil verschleppt hier und da den Lesefluss.

Die Übersetzung von Nikolaus Stingl hält mit dem Detailreichtum des Originals in weiten Teilen Schritt und schafft es, auch die Dialoge und den Slang der Figuren ins Deutsche zu übertragen, ohne bemüht auf deutsche Dialekte zurückgreifen zu müssen. Einzig der feine Wortwitz, scheint es, geht an mancher Stelle verloren (aus der prominenten Wendung „Ray Carney was only slightly bent when it came to being crooked“ wird im Deutschen „was krumme Dinger anging, war Carney eher ein kleines Licht“).

Wer einen halsbrecherischen Plot oder Hochglanz-Raubüberfälle im Stil von "Ocean's Eleven" erwartet, mag enttäuscht werden. Wer dagegen ein wenig Geduld mitbringt, lässt sich von "Harlem Shuffle" authentisch in eine Vergangenheit transportieren, die viele Parallelen zu unserer Gegenwart aufweist.