Seelen bei Tag

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„Bist du nicht das Gute in einem Menschen siehst, bist du unfähig, ihm zu helfen. Wenn du schlecht über jemanden redest, stellst du eine Fülle von Hässlichkeit bloß – an ihm, an dir selbst und an jedem, der gerade zuhört. Wenn sie einmal bloßgelegt ist, wird diese Wunde eitern und alle Beteiligten werden leiden. Sprich gut von dieser Person, und das innere Gute in ihr, in dir und in allen Beteiligten wird zu leuchten beginnen.“ Dieses Zitat des jüdischen Religionswissenschaftlers Yuval Lapide bringt auf den Punkt, was Kent Haruf in seinem Roman „Das Lied der Weite“ beschreibt.

Die Lehrerin Maggie ist eine, die das Gute im Menschen sieht. Als ihre Schülerin, die 17jährige Viktoria, bei ihr Hilfe sucht, nimmt Maggie sie bei sich auf. Das schwangere Mädchen wurde von der eigenen Mutter aus dem Haus geworfen. Maggies dementer Vater kann sich jedoch nicht an die neue Hausgenossin gewöhnen. Also findet die pragmatische Pädagogin eine neue Lösung: Sie bittet die Brüder McPheron das Mädchen aufzunehmen.

Die beiden alten Männer nehmen die Herausforderung an, ein Mädchen unter ihrem Dach aufzunehmen, von dem sie nicht mehr wissen als den Namen. Die Viehzüchter leben allein auf ihrer abgeschiedenen Farm auf dem Land. Unter der rauen Schale der Brüder, verbirgt sich ein warmherziger, gütiger Kern. Es ist eine der tragikomischen Stellen, wenn Raymond dem Mädchen auf der Fahrt zu einer Vorsorgeuntersuchung Mut macht, dass auch eine Ihrer Kühe Schwierigkeiten während der Schwangerschaft hatte und später ein gesundes Kalb zur Welt gebracht hat. Sein Bruder Harold entrüstet sich darüber, wie er nur darauf komme eine kalbende Kuh mit einem Mädchen zu vergleichen. Viktoria dagegen ist getröstet, Sie spürt die Fürsorge, die hinter dem ungelenken Vergleich steckt.

Der Roman wird aus 5 Perspektiven erzählt. Tom Guthrie, ein Kollege von Maggie. Ike und Bobby, seine Söhne. Viktoria. Die Brüder McPheron und Maggie selber. Haruf hat ein Gespür für Bilder aus Worten. Es reicht, Tom Guthrie morgens aus dem Schlafzimmer, am Zimmer seiner Frau vorbei in die Küche zu folgen um einen Eindruck von seinem Innenleben zu erhalten. Ebenso reicht es mit Viktoria über der Toilettenschüssel zu knien, über die sie ihre morgendliche Übelkeit erbricht um die Angst und Verzweiflung, weil die eigene Mutter keine Hilfe anbietet, zu verstehen. Und später reicht ihr Blick auf das Kinderbettchen das die McPheron Brüder für Sie gekauft haben, um wie Sie das Glück häuslichen Friedens zu genießen.

Haruf zeigt aber auch eine andere Seite. Wenn Tom von der Mutter eines seiner Schüler auf übelste Weise beschimpft wird, empört man sich weniger ob der vulgären Sprache und der rohen Gewalt der Worte. Vielmehr ist es das Üble, der „Eiter“ um mit dem Eingangszitat zu sprechen, über den man erschrickt. Der Junge, den Tom zu Recht durchfallen ließ, ist durch das schlechte Beispiel seiner Eltern bereits verdorben und erzeugt nun neues Leid, indem er die beiden Söhne Toms misshandelt.

Der Blick in die Seele von Ike und Bobby gelingt Haruf besonders gut. Ihre Mutter verlässt die Familie zu Beginn des Romans. Sie leidet unter Depressionen, die nicht näher bezeichnet werden. Die Kinder nehmen ihr Schicksal klaglos an und schwanken zwischen Hoffnung und Resignation. Am Ende sind es diese beiden Kinder, die zusammenführen, was zusammen gehört.

Mit "Unsere Seelen bei Nacht" ist Kent Haruf posthum quasi über Nacht in Deutschland berühmt geworden. Mit "Plainsong", das jetzt mit dem „Lied der Weite" in neuer Übersetzung vorliegt, hat der amerikanische Autor in der 1990er Jahren seine Romanfolge um den fiktiven Ort "Holt" begonnen, die er mit den "Seelen" kurz vor seinem Tod vollendete. Das „Lied der Weite“ zeigt Seelen bei Tageslicht. Sie rührten mich zu Tränen, ließen mich ohnmächtige Wut empfinden, machten mir Angst und erregten mein Mitleid. Vor allem aber, zeigen sie die Menschenkenntnis und die schriftstellerische Kraft Harufs.