Andauernde Odyssee

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luna80 Avatar

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TW: Fat Shaming, verbale Gewalt, Gaslighting, passive Aggression, Wut, Binge Eating

„Ich verstand einfach nicht, was an meiner Mutter „dick“ sein sollte. Hier am Strand gab es Frauen, die garantiert viel mehr wogen, und vor allem gab es Männer, die ganz selbstverständlich ihre enormen Bäuche vor sich hertrugen.“ (Z)

Schauplatz: ein kleines Dorf in West-Deutschland in den 80er Jahren.
Ort: Kleinfamilie mit Vater, Mutter, Tochter. Großeltern im Nachbarhaus.
Rollenbild: 80er Jahre Style, als Charly’s Engel und die ersten Topmodels aktuell war. Vater Oberhaupt, Mutter macht den Rest, der unsichtbar ist. Rollenbild-Erfüllerin.

Somit lässt sich schon vermuten, welche Odyssee sich in diesem autofiktionalen Roman abspielen wird. Aus meiner Sicht, ein furchtbarer, grausamer, verletzender … denn ich hatte so viele Deja Vu Momente, dass es mir fast die Haare vom Kopf gefetzt hätte … war es nur bei mir nicht ein Ehemann, sondern eine klassische Stiefmutter, die mit diesen Verletzungs-Attacken Perfektionistin war. Sei’s drum – zurück zum Buch.

„Drei Dinge, sagt meine Mutter, hat sie bei ihrer Heirat unterschätzt: die Schwerkraft des Dorfes, die Bedürfnisse ihres Prinzen, den Neid ihrer Schwiegermutter.“ (Z)

Der abendliche Ablauf in der Familie, war wie eine rückgespulte VHS. Kam der Vater heim, fing er mit der Mutter an zu streiten. Tägliches Thema: seine Frau sei zu dick und muss abnehmen. Manchmal fing er schon beim Frühstück an. Leider bleibt es bei diesen Streitereien aber nicht und der Vater wird zunehmend auch übergriffig, kauft eine Waage, zwingt die Mutter förmlich zu Diäten und Kuren und überwacht die Ziffern auf der Waage, wenn die Mutter ihre beiden Füße draufstellt. Doch die „vermeintlichen Wunden des Vaters wegen des Übergewichtes seiner Frau“ beziehen sich nicht nur auf die Optik. Sein persönliches Unvermögen oder ein Scheitern in seiner Karriere … an allem ist seine Frau wegen ihres Dickseins schuld; man könne sich schließlich nicht mit ihr öffentlich zeigen. Als die Mutter wieder Ambitionen hat zu arbeiten und diesen Wunsch auch durchsetzt, haut es dem lieben Vater vollkommen die Sicherung durch. Der Job seiner Frau schadet seinem Ansehen und ist nicht gut genug. Was ist denn mit dem Haushalt und der Kinderbetreuung?

Einerseits hatte ich an einigen Stellen das Gefühl, dass der Mann aus seinem Rollenbild ausbrechen möchte, und andererseits dachte ich mir nur: Mensch, du spießiger XXXX, nimm doch den Stecken aus deinem Popo. Dröscher lässt in ihren Roman noch einige Dinge einfließen, die ich jetzt außen vor lassen möchte, denn ihr sollt dieses Wunderwerk, dieses abartig, geile Ding vom „Body Shaming“ der 80er lesen … andauernd bis tlw. heute noch.

„Auf der Sehnsucht nach einem schlanken Körper gründen ganze Industriezweige. Würden alle Frauen dieser Erde morgen früh aufwachen und sich in ihren Körpern wirklich wohl und kraftvoll fühlen, würde die Weltwirtschaft über Nacht zusammenbrechen.“ (Z)

Der Stil mit dem Daniela Dröscher die Geschichte erzählt und die Art, wie ich es in anderer Lage erlebte, zog einen Sog, dass ich immer weiterlesen wollte (auch wenn ich eine Pause brauchte, sonst wäre ich vermutlich implodiert). Aus Sicht der kleinen Tochter Ela wird die Geschichte erzählt … kapitelweise werden auch Gespräche mit ihrer Mutter aus dem „Heute“ eingeflochten.

„Warum hast du dich dieser Tyrannei nur gefügt?“, will ich meine Mutter fragen. „Ich war zu schwach“, sagt sie, und dann, nach kurzem Zögern: „Wenn ich jemals eine Autobiographie schreiben sollte, müsste sie den Titel „Zu“ tragen. „Zu arm“, „zu krank“, „zu dick“ oder „zu schwach“. Mein ganzes Leben lang ist immer irgendwas an mir zu wenig gewesen oder zu viel.“ (Z)

Sie schreibt eine Geschichte über eine Frau, die trotz aller Verletzungen und Hindernisse, ihren Weg geht und sich das nimmt, was ihr aus Sicht ihres Mannes ja gar nicht zusteht. Und dem ganzen voran mitten im Ehekrieg die kleine Tochter, die hin und hergerissen ist. Die Geschichte eingeflochten in die Wahrnehmung eines Kindes, die viele Dinge ja noch gar nicht zuordnen konnte. Sie sieht, wie die Mutter einerseits gegen ein Rollenbild ankämpft, um im nächsten Moment wieder aufzugeben. Die Mutter beginnt zu Hungern, um des lieben Friedens Willen.
Der Roman zeigt, dass egal was Ela’s Mutter tut, sie kann es in den Augen ihres Mannes nie richtig machen. Die Familiendynamik ist herrisch (Mann ist Oberhaupt), von oben herab; die Mutter hat ja eh den ganzen Tag nichts zu tun.

Fazit:
Ein unglaublich gewalttätiges und gewaltiges Buch, das hinter die „Kulissen“ blicken lässt, die Gehirnzellen anregt, verbal an- und übergriffig ist und dazu anregen soll, dass ein fremder Körper überhaupt niemanden etwas angeht. Möge sich doch jeder selbst um seine eigenen „gefühlten Unzulänglichkeiten“ kümmern. Doch solange Selbstoptimierung und Shaming anderer von vielen wie ein Kavaliersdelikt akzeptiert wird, so lange werden solche Geschehnisse stattfinden. Das Buch zeigt auch auf, was das Patriarchat mit uns Frauen macht und legt den Finger in die Wunde der immer noch herrschenden Missstände in unserer heutigen Gesellschaft. Offensichtlich tut es aber noch nicht genug weh.