Wenn die Körperkritik des Vaters an der Mutter die Familie prägt

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
nabura Avatar

Von

Ela wächst in den 1980er Jahren im Hunsrück auf. Ihre Kindheit wird von einem Thema dominiert: Dem Körpergewicht der Mutter. Für ihren Vater ist klar, dass seine Frau dringend abnehmen muss, ob mit einer Kur, Diäten oder den Weight Watchers. Er schämt sich für ihr Aussehen und möchte mit ihr in der Öffentlichkeit so nicht gesehen werden. Stets ist er bestrebt, nach außen hin einen guten Eindruck zu machen und beruflich erfolgreich zu sein. Elas Mutter zieht sich immer weiter zurück, während sie sich zu Hause um zunehmend mehr Personen kümmern muss. Daniela Dröscher schildert in diesem Buch eine fiktionalisierte Version ihrer eigenen Kindheit.

Das Buch beginnt mit einem Dialog in der Gegenwart. In diesem merkt die Erzählerin gegenüber ihrer Mutter an, dass sie bis heute vieles über sie nicht genau wisse und etwas erfinden müsse, wenn sie über sie schreiben will. Ihre Mutter ermuntert sie dazu. Sie ist sich sicher, dass ihre Tochter ihre Geschichte so erzählen kann, dass sie geschützt wird.

In der Vergangenheit begegente ich Ela erstmals im Jahr 1983 kurz vor ihrem siebtem Geburtstag und begleitete ihr Leben über vier Jahre hinweg. Ich tauchte ein in ihren Familienalltag, in dem die Kritik ihres Vaters am Gewicht ihrer Mutter das Dauerthema ist. Dabei ist auffällig, dass Elas Mutter selbst kein Problem mit ihrem Körpergewicht hat und Diäten und weitere Maßnahmen nur ergreift, um ihren Mann zu besänftigen. Auch Elas Blick auf ihre Mutter wird durch das Agieren ihres Vaters zunehmend geprägt. 

Der Kampf um Selbstbestimmung ist in diesem Buch ein zentrales Thema, und zwar nicht nur im Hinblick auf Gewicht, sondern auch im Zusammenhang mit fianziellen und beruflichen Entscheidungen. In den Augen von Elas Vater kennt seine Frau grundsätzlich kein Maß. Dabei stellt man beim Lesen schnell fest, dass er selbst es ist, der immer wieder irrationale Entscheidungen trifft, um sich selbst und seine Wahrnehmung durch andere aufzuwerten. 

Zwischen den einzelnen Kapiteln sind immer wieder kurze Passagen eingefügt, in welchen die Erzählerin das Geschehene aus der heutigen Perspektive reflektiert und einen erwachsenen Blick auf ihr kindliches Erleben gibt. Dadurch gibt sie in der Deutung eine Richtung vor, lässt aber auch Platz für eigene Überlegungen. Es gibt auch weitere Dialoge mit ihrer Mutter, hingegen keine mit ihrem Vater, was aus meiner Sicht eine deutliche Positionierung ist.

Immer wieder schildert Ela Momente, in denen ihre Mutter sich gegen den goldenen Käfig auflehnt, in dem sie lebt. Ich war neugierig, inwiefern ihr ein Ausbruch gelingen wird. Für mich war "Lügen über meine Mutter" eine sehr intensive und eindrückliche Lektüre, die ich gerne weiterempfehle.