Zu viel ist gleich zu wenig

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tausendmund Avatar

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„In dem Kammerspiel mit Namen »Familie« wird das Kind nicht selten zum Blitzableiter der Kräfte, denen die Frau im Patriarchat unterworfen ist.“ (S. 113)

Eine erwachsene Frau blickt zurück auf ihre Kindheit im Westdeutschland der 1980er Jahre und ringt um Erklärungen und Kontext: Warum ist ihre Mutter nur „so dick“? Will sie denn gar nicht abnehmen? Lügt sie, um heimlich essen zu können?
Ela ist sechs Jahre alt, als ihr die Vorwürfe des Vaters zum ersten Mal schmerzlich auf den Brustkorb drücken. Das Gewicht von Elas Mutter markiert ihren Wert, bestimmt den Alltag der Familienmitglieder, ist Maßstab in sämtlichen Belangen. Die Mutter reagiert mit allen nur erdenkbaren Strategien: Diät, Aufopferung, Resignation, Widerspruch – aber wie kämpfen, wenn frau immer gleichsam zu viel und zu wenig ist?

Du bist wirklich ein absoluter Schatz unter den Werken über toxische Familienverhältnisse und die Belastung für Kinder, wenn die kriselnde Elternbeziehung durch respektlos-verletzende Kommunikation gelebt wird. Du erzählst vom überzeitlichen Phänomen der Parentifizierung; einer Familiendynamik, in der eine Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind stattfindet und das Kind die emotionale Fürsorge übernimmt. Es gibt zahlreiche Geschichten darüber, doch legst du den Fokus auf (für mich bisher) einzigartige Weise auf ein Beispiel, das eben keinen Extremfall darstellt. Ela wird Zeugin von (mal mehr, mal weniger) subtiler psychischer Gewalt und spürt, dass ihre Mutter unglaublich unglücklich ist. Nur bemerkt eben niemand Elas Bemühungen, das Gesagte und Geschehene nachzuvollziehen, hitzige Situationen auszubügeln, zwischen den Eltern zu vermitteln und dabei selbst keinen Anlass zur Sorge zu geben.
Daneben verhandelst du Frausein auf zahlreichen Ebenen, stellst Fragen nach dem Wert von Care-Arbeit, Körperlichkeit und Selbstbestimmung. Elas Sicht auf die Dinge ist unfassbar wertvoll und außergewöhnlich gut erzählt – wie ein Donnergrollen, dass die Spannung stets auf einem Maximum hält, sich aber nie an nur einem Punkt entlädt, denn die Geschichte selbst ist die Entladung.