Die Cardinals gegen den Rest der Welt

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"Wir sind wie niemand sonst, wir haben uns selbst erschaffen, wir sind einander unentbehrlich, unvergleichlich und unangepasst, die Einzigen unserer Art."

Die Cardinals sind alles andere als gewöhnlich. Mit einunzwanzig Kindern hausen Mutter und Vater in ärmlichsten Verhältnissen in Norco, einer Bergarbeiterstadt im unwirtlichsten Teil Kanadas. Die Kinder sind wild, ungezähmt und furchtlos, und sie führen einen unerbittlichen Krieg, um die Mine zurückzuerobern, die rechtmäßig ihrem Vater zusteht. Bis ein Unglück geschieht, das die Familienbande zu zerstören droht.

Das Schlagwort des Klappentextes EINUNZWANZIG KINDER lässt erst einmal alles andere verblassen. Wie wohnen diese Menschen? Was essen sie? Wer behält da den Überblick? Und welche Frau erträgt 21 Schwangerschaften und Geburten? Genau mit diesen Fragen wird der Leser dann auch direkt auf den ersten Seiten konfrontiert, wenn Matz, der Jüngste im Bunde, in schwärmerischen Tönen von seiner Familie berichtet. Für ihn sind die Cardinals ein Götzenbild, vor dem er in Ehrfurcht erstarrt. Und genau hier sollte man als Leser skeptisch werden.

Denn was verbirgt sich denn nun hinter diesem Schlagwort? Was ist das für eine Geschichte, die da erzählt wird? Schnell wird klar, dass es sich um eine Tragödie handelt, die das Zwillingsmädchen Angèle betrifft. Mehrere der ältesten Geschwister kommen zu Wort und erzählen ausschnittsweise von ihrem Leben mit der Familie und von jenem schicksalshaften Tag, der alles zu zerstören droht.

In ihrer Wildheit und Ungezähmtheit waren die Cardinals zunächst ein Abenteuer für mich. Ich habe gerne über die geisterhafte Mutter gelesen, über das fast schon lebendige Haus und das verworrene und dennoch streng hierarchische Miteinander. Doch immer mehr bekam ich Bauchschmerzen von den Grausamkeiten, die diese Kinder ungehindert ihrer Umwelt und sich gegenseitig antun konnten - die Eltern glänzten (logischerweise) durch erzieherische Abwesenheit. Brände wurden gelegt, Katzen getötet, Bären mit Sprengfallen schwer verletzt, Menschen mit Dynamit bedroht, alle anderen als dumm, schwach und bösartig dargestellt. Mit der Zeit habe ich mich gefragt, ob das nicht eher die Eigenschaften der Cardinals selbst sind, die ihren Hass und ihre Wut auf die Bergbaugesellschaft, die ihrem Vater angeblich die Mine geklaut hat, an den ebenfalls armen und abhängigen Bergleuten Norcos auslassen. Sie wurden mir jedenfalls immer unsympathischer und unerträglicher in ihrer Gemeinheit, und den vielbeschworenen Sinn für Gemeinschaft konnte ich in den geschwisterlichen Grausamkeiten kaum noch ausmachen.

Angèles Verschwinden und ihr Tod sind im Grunde das Kernthema der Geschichte. An dieser Sache hat jeder Schuld, die Cardinals schaufeln sich in ihrer verbissenen Abschottung und ihrem krankhaften "Zusammenhalt" zunehmend ihr eigenes Grab. Dem Größenwahn dieser Menschen fällt das einzige zarte Wesen zum Opfer, das die Familie hervorgebracht hat, und in dem allseitigen Bestreben, dieses "Geheimnis" zu bewahren und so die Familie zu retten, entfremden sich die Mitglieder immer weiter voneinander. Ein klassischer Fall von "Wir müssen die Gemeinschaft retten, indem wir uns als Individuen verleugnen" - dass eine Gemeinschaft jedoch nicht mit psychisch kranken Menschen gesund bleiben kann, scheinen die "Großen" dabei zu vergessen.

Saucier schreibt also über ein ganz menschliches Drama, dessen Ausmaße man eigentlich schon nach der Hälfte des Buches erkennen kann. Die unterschiedlichen Sichtweisen sind dennoch recht spannend zu lesen, auch wenn sie sich irgendwann zu wiederholen beginnen. Die Kapitel der Zwillingsschwester Camelle geraten dabei allerdings etwas pathetisch. Generell ist der übernatürliche Touch unpassend und plump. Ständig ist von Träumen die Rede, wirklich ständig. Der Vater hat Träume, Angèle hat Träume, alle haben Träume und scheinen nur in ihrer Traumwelt zu leben. Die Charaktere bleiben dabei erstaunlich flach, sie lassen sich nur darüber festmachen, inwiefern sie sich von den anderen Geschwistern unterscheiden. Irgendwann nimmt jeder von ihnen eine so abstrakte Rolle ein, dass sie kaum noch als Menschen zu erkennen sind.

Jocelyne Saucier erzählt in "Niemals ohne sie" eine dicht gewebte menschliche Tragödie, die sich in einer außergewöhnlichen, mir aber zu brutalen Familie abspielt, deren Mitglieder mir alle fremd und unsympathisch blieben. Das heißt allerdings nicht, dass ich das Buch ungern gelesen habe, denn in seiner Merkwürdigkeit und Ungreifbarkeit übt es eine gewisse Anziehungskraft aus, der man sich schlecht widersetzen kann. Etwas weniger "Träume", die dann doch nie erläutert werden und zum reinen Stilmittel verkommen, hätten aber sicherlich nicht geschadet.