Nilowsky - sprachliche Meisterleistung!

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sternchen1202 Avatar

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“Einmal – wir kannten uns ein paar Wochen, aber ich weiß nicht, ob wir da schon Freunde waren – stand ich mit Nilowsky auf dem Bahndamm unter einer dieser Wolken, die vom Chemiewerk herüberkamen und grünlich gelb von den Schwefelabgasen waren.“

Torsten Schulz ist Autor preisgekrönter Filme, Regisseur und Professor für Dramaturgie an der Filmhochschule Babelsberg. Sein Romandebüt „Boxenhagener Platz“ war ein großer Erfolg, wurde ins Ausland verkauft und verfilmt. Torsten Schulz lebt dort, wo seine Bücher spielen: in Berlin.

Inhalt:
Markus Bäcker, 14 Jahre alt und der Ich-Erzähler der Geschichte, zieht 1976 mit seinen Eltern an den Rand Ostberlins. Dort wohnen sie in unmittelbarer Nähe des Chemiewerks, in dem seine Eltern arbeiten, und direkt neben Bahngleisen. Fährt ein Güterzug vorbei, spürt man die Vibrationen im ganzen Haus.
Kurz nach dem Einzug lernt Markus Reiner Nilowsky kennen. Nilowsky ist der 17-jährige Sohn des Kneipenbesitzers des Bahndammecks und wohnt in direkter Nachbarschaft. Nilowsky übt eine ungewöhnliche Faszination auf Markus aus und die beiden befreunden sich. Durch Nilowsky lernt Markus Neger-Wally, die anderen alten Frauen, die Mosambikaner und Carola kennen. Carola stellt Nilowsky als seine zukünftige Braut vor, was Markus in einen Konflikt stürzt, als er sich heimlich in sie verliebt. Eine ungewöhnliche Dreier-Beziehung/Freundschaft entwickelt sich, die keinen der drei so schnell wieder los lassen wird…

Bei Torsten Schulz Roman „Nilowsky“ fällt es mir nicht nur schwer, den Inhalt wiederzugeben, sondern auch allgemein etwas darüber zu sagen…
Fasziniert hat mich an diesem Roman die Sprache: Nilowsky spricht eigenartig, wiederholt Satzteile unzusammenhängend immer wieder und betont damit anders als wir es aus dem alltäglichen Leben kennen. Die Sprache ist so konstruiert, dass man die einzelnen Sätze immer wieder lesen muss und sie wirklich im Gedächtnis hängen bleiben.
Doch auch der geschriebene Berliner-Dialekt gefällt mir unheimlich gut. Er lässt die Figuren authentisch wirken und verleiht ihnen (auch wenn es nur Nebenfiguren sind) einen deutlichen, eigenen Charakter.
Neben der Sprache hat mich vor allem die Figurenzeichnung Schulz‘ angesprochen. Schulz schafft es unglaublich starke Figuren zu zeichnen. Nilowsky definiert sich nicht nur durch seinen eigenwilligen Gebrauch von Sprache, sondern auch durch seine eigenwilligen Ansichten und Taten. Er legt Groschen auf die Gleise, um sie plätten zu lassen. Jeder Zug nähme somit die Prägung des Groschens mit in ferne Länder.
So stark wir Nilowsky seine Mutter und seine Großmutter liebt, so stark verabscheut er seinen saufenden, prügelnden Vater. Er würde ihn am liebsten umbringen, traut sich dann aber doch nicht und ringt sich Respekt gegenüber seinem Vater ab, da er sich selbst umgebracht hat.
Auch wenn Nilowsky immer wieder betont, dass er nicht wie sein Vater werden wolle, so deutlich erkennt der Leser zuerst einzelne Sätze, die der Sohn wiederholt, später ganze Lebensmuster, was jedoch sehr glaubhaft ist. Gestört hat mich zu Beginn jedoch, dass sich Nilowskys Sätze irgendwann eins zu eins wiederholen. Er sagt immer wieder dasselbe und scheint aus diesem Muster nicht herauszukommen. Im Nachhinein passt dies jedoch sehr gut zu seinem Charakter, da es die Grenzen des Nilowskys aufzeigt.
Im Gegensatz zu Nilowsky steht Markus Bäcker. Er ist ein schwacher Ja-Sager, der immer genau das zu tun versucht, was Nilowsky von ihm erwartet oder ihm befiehlt. Auch Carola gegenüber schafft es Markus nicht, seine Meinung zu äußern und fühlt sich immer mehr wie ein Spielball der beiden.
Carola ist ebenfalls ein sehr eigenwilliger Charakter, den der Leser nicht immer durchschauen kann. Als Markus sie kennenlernt, sieht sie aus wie ein 13-jähriges Mädchen, obwohl sie eigentlich 17 Jahre alt ist. Sie vertraut Markus an, dass sie beschlossen habe, nicht erwachsen werden zu wollen. In Verbindung mit Carola tauchen immer wieder Andeutungen auf, sie habe eine Essstörung, was der Leser jedoch nicht sofort fassen kann. Gleichzeitig entzieht sich Carolas Gefühlswelt nicht nur dem Leser, sondern auch Markus. Einmal scheint sie ihm Hoffnungen zu machen, auf der anderen Seite bewundert sie Reiner.
Insgesamt musste ich mir während des Lesens immer wieder die Frage stellen, ob zwischen Reiner Nilowsky und Markus Bäcker wirklich eine Freundschaft besteht. Es redet nur einer und nur einer bestimmt, wann sie etwas gemeinsam machen. Gleichzeitig fallen immer wieder sexuelle Anspielungen und Andeutungen. Auch Markus ist sich nicht sicher, ob es sich wirklich um eine reine Freundschaft handelt, da die Gefühle zu verwirrend und tiefgehend sind.
Immer wieder ekelte mich die Handlungen der Personen oder auch allein die Sprache – doch die Sprache war letztendlich immer wieder genau das, was mich fesselte. Ähnlich wie Markus kam ich nicht von Nilowsky und Carola los.
So lange sich die Handlung zu Beginn des Romans zieht, so rasant nähert sich dem Roman seinem Ende. Zu Beginn verstreichen Wochen sehr langsam, doch plötzlich gehen die Jahre ins Land und die drei Freunde werden erwachsen.
Auch das Buchcover faszinierte mich sofort. Dreiviertel des Covers nehmen der Autorenname und der Titel ein, welche in einer unglaublich passenden Schrift geschrieben sind. Im unteren Drittel befinden sich Gleise, auf denen ein Huhn steht und im Hintergrund nähert sich ein Zug. Die Gleise kann man relativ schnell mit der Handlung in Verbindung bringen, doch die Bedeutung des Huhns erschließt sich erst während des Lesens, was mir sehr gut gefällt. Nichts ist schlimmer als ein Cover, das kaum einen Bezug zu dem Buchinhalt aufweist!
Insgesamt kann ich sagen, dass Schulz ein faszinierender Roman gelungen ist! Auch wenn ich mich mit keiner der Figuren identifizieren konnte (gerne hätte ich sie alle einmal geschüttelt, damit sie zur Besinnung kommen), so gefällt mir Schulz Sprache unglaublich gut!
Ich kann mir sogar vorstellen, dass „Nilowsky“ ein Buch wäre, das in der Schule gelesen werden könne, da es so dicht geschrieben worden ist!