Recht ist nicht dasselbe wie Gerechtigkeit

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theresia626 Avatar

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„Robert McGladdery wurde am 20. Dezember 1961 um 8.00 Uhr morgens im Gefängnis an der Crumlin Road erhängt.“ (S. 326) Es ist das letzte Todesurteil, das in Nordirland vollstreckt wurde. Wie es dazu kam, erzählt Eoin McNamee in seinem sehr gut recherchierten Roman „Requiem“.

Pearl Gamble, eine 19jährige Verkäuferin, kommt nach einer Tanzveranstaltung im Januar des Jahres 1961 in der Halle des Oranier-Ordens in Newry nicht wieder nach Hause. Ihre nackte Leiche wird am nächsten Morgen am Weir`s Rock gefunden. Schnell ist ein Verdächtiger ausgemacht, Robert McGladdery. Er hat bei seiner Verhaftung frische Verletzungen an den Händen, ansonsten gibt es keine Beweise, keine Augenzeugen und kein Tatmotiv, das ihn mit dem Mord an Pearl Gamble in Verbindung bringen konnte. Das einzige, was man ihm vorwerfen kann, ist, dass er mit ihr getanzt hat.

Eddie McCrink übernimmt nach 15 Jahren Arbeit im Morddezernat in London die Inspektorenstelle des Belfaster Polizeibezirks, und der Fall Gamble hat oberste Priorität. Er hat große Zweifel an der Richtigkeit der Zeugenaussagen und wird bei seinen Ermittlungen ausgebremst und bedroht. Dem Leser wird sehr früh klar, dass Robert McGladdery keine Chance auf einen fairen Prozeß haben wird, denn der Innenminister Brian Faulkner selbst ist sich nach wenigen Tagen Ermittlungsarbeit sicher, dass es einen Schuldspruch geben wird, und bei einem Todesurteil geht das Gnadengesuch über seinen Tisch. Es steht von vornherein fest, dass er es ablehnen wird. Während der Ermittlungen stößt McCrink auf den neun Jahre zurückliegenden Fall der ermordeten Tochter des Richters Curran. Schon damals ging nicht alles mit rechten Dingen zu, und Curran hätte wegen Befangenheit den Prozess gegen McGladdery niemals führen dürfen. „Wenn Richter Curran auf der Bank Platz nimmt, bedeutet das für McGladdery den Strick.“ (S.51) Er ist der verkörperte Ehrgeiz, spielsüchtig, hoch verschuldet, hinterhältig und auf Rache für den Mord an seiner Tochter aus. Er brauchte jemanden, der für seinen Schmerz bezahlt.

„Requiem“ von Eoin McNamee, im englischen Original „Orchid Blue“ – titelgebend ist hier ein Tanzlokal aus „Blue Tango“ - ist eine überaus gelungene Mischung aus Fiktion und Tatsachenbericht. In „Blue Tango“, dem ersten Roman der geplanten Trilogie, befasst sich der Autor mit dem aufsehenerregenden Justizirrtum um den jungen Soldaten Iain Hay Gordon, der 1952 die damals 19jährige Patricia Curran, die Tochter des angesehenen Richters Lance Curran, ermordet haben soll. Schlüsselfigur ist hier Sir Richard Pim, ein Vertrauter von Winston Churchill, der in den Fall eingreift, um eine Verurteilung zu erreichen. Gordon entging 1953 nur knapp der Todesstrafe und wurde wegen Unzurechnungsfähigkeit in die Nervenheilanstalt Holywell eingewiesen, nach sieben Jahren entlassen und im Jahr 2000 rehabilitiert. „Requiem“ ist eine gelungene Fortsetzung von „Blue Tango“ und verdient die Bezeichnung „roman noir“. Er ist mehr als nur eine Kriminalgeschichte mit authentischem Hintergrund, er zeichnet das Bild der damaligen Gesellschaft, hinter deren Fassade die schrecklichsten Abgründe lauern. „Beobachter des McGladdery-Prozesses berichteten, dass McGladdery nicht wirklich zu begreifen schien, was mit ihm geschah.“ (S. 290). Es erweckt den Anschein, als hätte er an seinem Unglück mitgewirkt.
Eoin McNamee analysiert seine Protagonisten mit großer Stilsicherheit. Dennoch ist seine Darstellung niemals weitschweifig oder langweilig. Besonders gut gelingt dem Autor die Figur des Richters Lance Curran. Curran wusste ganz genau, dass er 1952 schon einmal einen Unschuldigen verurteilt hat. Gleichwohl beeinflusst er in seinem Schlußplädoyer in unerlaubter Weise die Geschworenen und zerstört damit alle Chancen der Verteidigung. Curran macht später noch eine glänzende Karriere, weil alle, die Bescheid wissen, genauso korrupt sind wie er. „Eine faire Rechtsprechung ist ein Nebenprodukt unserer Justiz, nicht ihr Sinn und Zweck.“ (S.268) „Requiem“ von Eoin McNamee ist ein beeindruckendes Porträt einer düsteren Epoche und in meinen Augen eine lohnende Lektüre.