Raffiniertes Vexierspiel

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alasca Avatar

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Graeme Macreae Burnet recherchiert über seinem Großvater, stößt dabei auf diverse Zeitungausschnitte und findet schließlich, neben anderem Material, ein umfangreiches Manuskript. Was wir in Händen halten, so sollen wir glauben, ist die Dokumentation eines spektakulären Kriminalfalls in den schottischen Highlands des 19. Jahrhunderts.

Der Autor des Manuskripts ist Roddy Macrae, ein 17jähriger Sohn armer Pächter aus Culduie, einem Küstendorf in Sichtweite der Isle of Skye, der auf Anraten seines Anwalts die Geschichte des dreifachen Mordes aufschreibt, der ihm angelastet wird. Diesem vorangestellt ist eine Reihe widerstreitender schriftlicher Aussagen über Roddy, die – großartiges Handwerk – ebenso viel über den jeweiligen Verfasser aussagen wie über ihr Subjekt. Ganz nebenbei ergibt sich ein Bild des irischen Pachtsystems zwischen Laird und Kirche: Der calvinistische Priester predigt Ergebung in die Vorsehung, während die Dörfler vollkommen von der Gnade des Grundbesitzers abhängig sind. Burnet macht die beklemmende Atmosphäre der Willkür, Beschränkung und Machtlosigkeit fühlbar, die im Dorf herrscht; es ist quälend zu lesen, mit welcher Schicksalsergebenheit sich die Dörfler ihrem Los beugen. Ein Versuch Roddys, die Verhältnisse hinter sich zu lassen, scheitert, weil er sich in seiner fatalistischen Weltsicht kein anderes Schicksal vorstellen kann: „Wie ein Hund an der Kette hatte ich die Grenze meines Territoriums erreicht.“ Am Ende des Manuskripts, in der Mitte des Romans, steht die Bluttat, deren Roddy sich in stoischer Aufrichtigkeit schuldig bekennt. Haben ihn Aberglaube und religiöser Fatalismus zu seiner Tat getrieben?

Die zweite Hälfte des Romans schildert anhand von Zeitungsberichten den Prozess und die folgenden Ereignisse; Burnet zeigt uns damit die Sicht der „fortschrittlichen“ Städter auf die Dörfler und den Angeklagten, die sich als unerträglich arrogant erweist. Einzige Ausnahme ist Roddys Anwalt, der versucht, mithilfe eines Pioniers der Kriminologie, den es übrigens wirklich gab, „moralischen Schwachsinn“ für Roddy geltend zu machen und ihn so vor dem Galgen zu bewahren, und Roddy wundert sich, „dass sich nun, da ich einen Mörder aus mir gemacht habe, lauter feine Herren um meine Gesellschaft“ reißen. Interessant auch der Einblick in die Irrungen der frühen Kriminologie und Psychiatrie unter anderem durch die Aussage des Gefängnisarztes und des Psychiaters mit aus heutiger Sicht erschütternden Fehlurteilen.

Bei alldem trifft Burnet den Ton der Erzählprosa, der Zeugenaussagen, Zeitungsartikel und Gerichtsakten perfekt und erschafft dadurch einen so überzeugenden Kosmos, dass ich immer wieder in Zweifel geriet, ob es sich hier um ein Stück Fiktion handelt oder nicht doch um eine echte, feudalistische Tragödie. Dass es manche der Figuren wirklich gegeben hat, hilft nicht dabei. Das ist der eine Knoten, den die Lektüre nicht lösen kann, aber es gibt noch einen zweiten: „Man kann in den Kopf eines Mannes ebenso wenig hineinschauen wie in einen Stein“, sagt so grimmig wie treffend ein Dorfbewohner. Tatsächlich kann man die Puzzleteile, die Burnet uns so geschickt hinwirft, arrangieren, wie man will, sie wollen kein eindeutiges Bild ergeben. Niemandem kann man trauen in diesem Buch, jeder ist ein unzuverlässiger Erzähler, auch Roddy, wie sich gleich zu Beginn der Gerichtsverhandlung herausstellt. Dabei ist die Figur Roddy in ihrer Bescheidenheit ungemein einnehmend; er ist, wie sein Dorflehrer sagt, „einer der begabtesten Schüler, die ich seit meiner Ankunft in der Gemeinde unterrichtet habe“. Dennoch kann er der Macht von Tradition und Prägung nichts entgegensetzen und muss untergehen.

Scheinbar leicht zu lesen, spürt man die Widerhaken des Textes noch lange, nachdem man das Buch aus der Hand gelegt hat. Es ist ein ungemein fesselndes Konstrukt; düster, widersprüchlich, verwirrend, empörend. Manches treibt einem Tränen in die Augen. Das Ende erklärt nichts. Wer das nicht aushält, der wird diesen Roman nicht mögen. Ich fand ihn wunderbar.