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Abgründe und Erkenntnisse

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Schon im vorangestellten Zitat von Dürrenmatt wird ausgesagt, dass ein Geschehen nicht wie eine Rechnung aufgehen kann, da die wenigen Fakten einem Wust an Zufällen und Unberechenbarem gegenüberstehen. Schon hier wird also angedeutet, dass wir es nicht mit einem Krimi zu tun haben, an dessen Ende dann auch noch eine (zufriedenstellende) Auflösung steht. Dass wir es vielmehr mit einem Geschehen zu tun haben, wo gerade die Seite des Unerklärlichen Übergewicht hat.

Im verschneiten Wald nahe eines kleinen Bergdorfs werden 11 Leichen gefunden, die an 11 verschiedenen Todesarten gestorben sind, von Mord, über Selbstmord bis zu schlimmen Krankheiten ist alles vertreten; ein kleines Mädchen ist verschwunden. Eine Bluttat ist angerichtet, fast kunstvoll im weißen Schnee "drapiert", die die Grenzen des menschlichen Verstandes übersteigt. Nichts paßt zusammen, es ist einfach keine vernünftige Erklärung zu finden (z.B. wie kann mitten im Wald ein Opfer durch eine Haifisch zu Tode kommen?), so dass die Staatsanwaltschaft eine Geheimsache daraus macht, die Fakten vertuscht und sogar verändert, und schließlich einen Terroranschlag als Lösung präsentiert.

Don Ermete, der Pfarrer des Bergdorfs, der selber als einer der ersten an die Unglücksstelle kam, und die Psychiaterin Giovanna, die gerade panisch eine dafür Erklärung sucht, warum bei ihr eine 15 Jahre alte Narbe aufgebrochen ist,  versuchen das Rätsel zu lösen, vielmehr aber noch,  den traumatisierten Bewohnern Bewohnern, zu helfen. Und schließlich auch sich selber.

Die grauenhafte Bluttat ebenso wie das Aufbrechen der Narbe sind von der Vernunft her nicht zu erklären, aber dennoch passiert. Wie sagte der Arzt von Giovanna, der damals ihre Wunde genäht hat: Das Aufbrechen einer Narbe nach so langer Zeit sei zwar dem Kenntnisstand nach unmöglich, aber lasse man die Theorie beiseite, dann schon! Also es ist so, wie das Massaker wirkte: die Grenzen des Verstandes übersteigend. Insofern ist dieses Ereignis weniger ein Krimigeschehen, vielleicht eher ein Stilmittel.

Das Geheimnis des Warum bleibt, heißt es am Schluß, aber das wäre ja auch die Frage der Vernunft, die Frage nach dem Sinn, den man braucht, um sich etwas zu erklären.  Wir Leser warten auf eine Lösung, aber konsequenterweise präsentiert der Autor keine (äußere) Lösung, denn es geht nicht um den üblichen Krimistoff, es geht um den Krimi im eigenen Innern, im eigenen Selbst!

Von daher bedient sich der Autor auch vornehmlich der Technik des Bewußtseinsstroms. Alles was auftaucht im Bewußtsein wird so wiedergegeben, wie es kommt, und das ist oft sehr ungeordnet. Von daher erscheint die Figur der Giovanna zu Beginn sehr panisch, und sie soll Psychiaterin sein?, doch wir können daher Stränge mitvervolgen, die scheinbar nichts miteinender zu tun haben, aber letztlich alle ihren Einfluss haben auf ihr bzw. unser Denken und Tun. Und genau diese Technik macht meines Erachtens auch den Reiz aus, denn so funktioniert nun mal unser Geist, vor allem in Krisen- und Umbruchzeiten, wo der Gedankenstrom so gar nicht abreißen will! Das Schlußkapitel kommt sogar ohne Satzzeiche daher, ein Wust an Gedanken und Gefühlen! Die Qual und Zerissenheit im Innern jedes Einzelnen zeigt er so auf, die verschiedenen Stimmen, die alle ihren Kommentar abgeben und Fragen aufwerfen.

Und zunehmend nimmt der Autor Fahrt auf, am Anfang ist es alles noch etwas schleppend, aber wird immer intensiver, endlich wird auch der Dialog immer ausführlicher zwischen den beiden Protagonisten, ein Diskurs auch um die Grenzen der Vernunft und Wissenschaft, um die Möglichkeiten des Unmöglichen.

Don Ermete und Giovanna versuchen den Bewohnern im Dorf zu helfen, aber es scheint alles in Auflösung begriffen, alte Ängste und Streitereien treten wieder zutage, der Wahnsinn und das Sterben breiten sich aus. Es ist jedermanns eigene Geschichte, sowie es letztlich auch Giovannas und des Pfarresr eigene Geschichte ist, um die es letztlich geht. Denn in diesem Roman geht es nicht eigentlich um die Bluttat, vielmehr um die Abgründe der menschlichen Seele, den großen Fragen nach Schuld und Sühne, nach Gut und Böse, nach den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten .

Mich hat diese philosphische Reise inhaltlich wie sprachlich sehr fasziniert und für mich ist es ein Stück große Literatur! Es ist auch eine Reise für Don Ermete und Giovanna, die beide erkennen, das dieser Ort nur eine Station gewesen ist, aus einer zufälligen Begebenheit heraus sind sie dorthin gekommen, aber die Chance der Umkehr oder des Weitergehens ist immer da, entwickelt sich auch für den ein oder anderen Dorfbewohner, der glaubte, für immer dort gebunden zu sein. Akzeptieren lernen, dass etwas so sein kann wie es ist, aber oft im Geist zu etwas ganz anderem gemacht wird. Zwei Resultate aus dem Dialog , die ich in dem Zusammenhang für sehr zentral halte:

Zum einen der Hinweis auf die Theorie der negativen Fähigkeit, bei der es darum geht, die Abwesenheit von Sinn zu tolerieren, um dadurch Dinge zu sehen, die man sonst eben nicht sehen würde, vor allem Raum zu schaffen für die Intuition. Zum anderen der Verweis auf die Alternative, die z.B. Giovanna damals, als sie einmal in ihren Augen Schuld auf sich geladen hat, nämlich nicht gesehen hat: das, was passiert ist muß kein Problem sein, sondern kann auch eine Chance sein.

Wenn der Autor in einem Interview sagte: "Paranoia führt zu Offenbarungen", dann brauchte er diese Abgründe, dieses wahnsinnig machende Ereignis, um zu Erkenntnis zu kommen. Dabei ist es eine Leistung von Veronesi, dass sein Schreibstil das Bewußtsein selber widerspiegelt. Für die beiden Protagonisten bedarf es Bemühungen um- und miteinander und um sich selber, um zu erkennen, hat sich herausgeschält über den Bewußtseinsstrom wie auch über den Dialog.

Vielleicht ist der Titel auch ein bisschen in die Richtung Dialog erklärbar. X und Y stehen für die unterschiedlichen Geschlechter, für Frau und Mann; und vielleicht sind zwei Sichtweisen nötig um zu begreifen, alles hat wie die Medaille seine zwei Seiten, und so hat auch alles eine Alternative. Es ist nichts zwingend nur in eine Richtung möglich in der Entwicklung des menschlichen Seins.