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Das Ungesättigte oder die Abwesenheit von Sinn

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buecherfan.wit Avatar

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In dem kleinen italienischen Bergdorf San Giuda leben nur noch zweiundvierzig Menschen, die im wesentlichen vier Familien angehören. Die mächtigste ist der Clan der Formentos. In der Touristensaison bringt Beppe Formento täglich Touristen mit dem Pferdeschlitten in den Ort und sorgt für Umsatz im Laden und in der Bar seiner Geschwister. Eines Tages kommt der Schlitten leer mit nur noch einem verstörten Pferd zurück. Im Wald in der Nähe von San Giuda werden elf Leichen gefunden. Später wird sich zeigen, dass es für jeden Toten eine andere Todesursache gibt.

Zur gleichen Zeit bricht bei der Psychiaterin Giovanna, die im Nachbarort Cles im psychiatrischen Zentrum arbeitet, eine fünfzehn Jahre alte Narbe mit starkem Blutverlust wieder auf. Don Ermete, der Pfarrer des Ortes, ist einer der drei Männer, die die Leichen und einen von Blut rot gefärbten Baum gefunden haben. Don Ermete wird später Giovanna in ihrer Eigenschaft als Psychiaterin um Hilfe bitten, weil seine Gemeinde sich durch das Trauma stark verändert und zunehmend dem Wahnsinn verfällt. Um die Bevölkerung nicht zu verunsichern, wird das Ereignis als islamistischer Terrorakt hingestellt und die Indizien werden entsprechend “frisiert”, d.h. alle Leichen werden enthauptet, der Baum aufgetaut und gereinigt.

Obwohl elf Leichen die Vermutung nahelegen, dass es sich um einen Thriller handelt, ist doch schon frühzeitig - und nicht zuletzt durch den Klappentext und die prologartige Verständnishilfe für den Leser - offenkundig, dass es hier um etwas Anderes geht als um die Suche nach Täter und Motiv. Die Untersuchungsergebnisse der Wissenschaftler bringen kein Licht in die Angelegenheit, im Gegenteil, sie lassen alles immer rätselhafter erscheinen. Mit der Nennung der Todesursachen ist für den Leser klar, dass es keine rationale Erklärung für die Geschehnisse im Wald geben kann. Schließlich wurde eins der Opfer mitten in einem Gebirgswald durch den Biss eines Hais getötet, der vor 200 Jahren ausgestorben ist.

Nicht nur Wissenschaftler und Ermittler versuchen, das Rätsel zu lösen. Auch Giovanna und Don Ermete suchen nach Antworten und tauschen in einer langen Nacht der Gespräche gegen Ende des Romans ihre Erkenntnisse und Theorien aus, denn sie sind beide direkt in das Geschehen involviert. Giovannas zum exakten Todeszeitpunkt der Opfer aufgebrochene alte Narbe widerspricht jeglichem medizinischem Wissen, und Don Ermete quält sich mit einer tiefen Glaubenskrise, weil er sich fragt, ob die Geschehnisse ein Werk des Teufels oder etwa gar ein Werk Gottes sind. Außerdem sieht er sich um die Früchte seiner zehnjährigen Arbeit in San Giuda gebracht, nachdem es ihm gelungen war, die Dorfbewohner im gemeinsamen Kult des Heiligen Judas zu einen. Weder Don Ermete noch Giovanna können den durch Isolation, Inzucht und Inzest vorgeschädigten Dorfbewohnern helfen. Sie sind nicht zu retten.

Sowohl theologische als auch psychoanalytische Ansätze versagen bei dem Versuch der beiden, das Unerklärliche zu erklären. Die Erkenntnisse, die sie in ihren Gesprächen gewinnen, betreffen ihr eigenes Leben. Sie begreifen, dass sie ihrem Leben eine neue Richtung geben müssen. Don Ermete muss an den Punkt zurückgehen, an dem er sich befand, bevor er die Stelle in San Giuda annahm. Am Ende des Romans zieht Giovanna in einem langen inneren Monolog am Tag Null Bilanz. In einer symbolischen Skiabfahrt an genau dem Ort, wo sie 15 Jahre zuvor ein wichtiges Skirennen gewinnen wollte, das ihr die Aufnahme in die Nationalmannschaft ermöglich hätte, an dem jedoch ihre Karriere durch die selbstverschuldete Verletzung mit dem Messer zu Ende ging, zieht sie Bilanz und beschließt entscheidende Veränderungen in ihrem Leben. So können die schrecklichen Ereignisse für die beiden Protagonisten eine Quelle von enormer Kraft und eine Befreiung sein, auch eine Befreiung von alten Denkmustern. Denn eine der von Giovanna vorgetragenen psychoanalytischen Theorien besagt, dass man auch die Abwesenheit von Sinn akzeptieren muss, ohne sich um Verstehen zu bemühen und dass dadurch der Horizont erweitert wird, weil man so auch Dingen Aufmerksamkeit schenken kann, die sonst vernachlässigt werden. Der Autor scheint diese Auffassung zu teilen. Es ist etwas geschehen, dass so nicht geschehen sein kann. Diesen Widerspruch löst Veronesi nicht auf und durchbricht damit die Lesererwartung, dass es doch irgendeine rationale Erklärung für die Bluttat geben müsse.

Mich hat das nicht gestört. Ich bin nicht enttäuscht, dass mir die (banale) Aufklärung von Bluttaten - wie in der gängigen Thrillerkost üblich - vorenthalten wird. Sandro Veronesis Roman ist thematisch und erzähltechnisch hoch interessant, ein lohnendes Experiment, auf das ich mich gern eingelassen habe.